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Die chosen Metapher für schwangere Transmänner

Rudi Nuss

Die Liebe im Konvexen, in der totalen ­Rundung und zur Slutifizierung aller Männer westlich des Bosporus

Veröffentlicht am 07.06.2023

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The male is a biological accident.

– Valerie Solanas, Scum Manifesto


…car tout ce qui est rond appelle la caresse.

– Gaston Bachelard, La Phénoménologie du rond






Ein quallvoll verzogenes Gesicht, die Augen verdreht, der ganze Körper schaudert und verrenkt sich unter Schmerzen. Pressatmung – Wehen. Der Nachwuchs entspringt der Bauchtasche des Männchens, hunderte kleine Seepferdchen strömen aus dem Bauch des Vaters. Es sind albtraumhafte Bilder in Jean Painlevés L'hippocampe (1934), schwarzweiße Aufnahmen des Horrors: platzende Väter, sezierte Tiere, allzu symmetrisch halbiert; ein Skalpel fährt über die dutzenden Eier im zerschnittenen Bauchraum. Beim Kontakt des Messers mit den traubenartigen Organen schaudert es mir. Im schwarzweißen Kontrast sehen diese Kritter aus wie hilflose Dämonen, vertikal im Wasser schwimmende Aliens. »Man kann nicht anders, man will diesen armen Wesen Arme und Beine geben«, sagt die Stimme aus dem Off, während man die Seepferdmännchen nach der Geburt sieht, wie sie noch für Stunden mit aufgebläht leerem Bauch von Nachwehen heimgesucht werden, dort wo gerade noch bis zu zweitausend Jungtiere heranwuchsen. Raum wird geschaffen, wo keiner ist. Der Bauch reicht hinaus in die Welt – und »strahlt eine Art selbstgefälliger Autoerotik aus: eine intime Verbindung, die für andere sichtbar ist, sie aber entschieden ausschließt.« (Maggie Nelson) Die Schwangerschaft ist der weirdste Zustand; die Heterosexualität musste erstmal erfunden werden, um das Extreme in ihr zu normalisieren. Es sind nun auch nicht normale Umstände, es sind andere. Von den bis zweitausend Jungtieren überleben nur etwa zehn – die Tiere sind nach der Geburt auf sich gestellt, werden gefressen oder von der Meeresströmung erfasst und in die schwarze Tiefe gerissen.


*


Das Seepferchen ist die chosen Metapher für schwangere Transmänner – siehe #Seahorsedad –, aber darum geht es hier nicht. Es geht nicht um reproducive rights, es geht nicht um Politik, es geht nicht um Bedeutung und auch nicht um Sinn. Hier geht es bloß um obszöne Autoerotik, um die Fantasie und den Wahnsinn. Es geht auch nicht um die prometheische Metapher, sondern um die tatsächlich fiktive Körperlichkeit. Nicht um den Gott Loki, der sich in eine Frau verwandelt und dann ein achtbeiniges Pferd namens SLEIPNIR gebiert. Nicht um den Mainstream der männlichen Schwangerschaft – wo sie sich immer nur zwischen dem Monströsen und einem schlechten Witz bewegt: Sei es im absolut bescheuerten Film Junior...

  • Gegenwartsliteratur
  • Homosexualität
  • Mutterschaft

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Rudi Nuss

Rudi Nuss

geboren 1994 in Berlin, studierte Literaturen in ebenda. Seine Familie hat den größten Teil ihres Lebens an einem der größten und schönsten Atomkraftwerke Russlands gelebt. Beim 24. open mike erhielt er den taz-Publikumspreis und 2020 das Literaturstipendium des Berliner Senats. Als Redakteur ist er bei Die Epilog – Zeitschrift zur Gegenwartskultur tätig. Die Realität kommt ist sein erster Roman.