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»Wenn man eine solche Frau hat, lässt sich auch in Berlin leben.«

Maria Zinfert

Lili Kracauer. Eine biographische Skizze

Aus: Kracauer. Fotoarchiv, S. 79 – 86

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»Wenn man eine solche Frau hat, lässt sich doch auch in Berlin leben«, bemerkt Ernst Bloch im Sommer 1931 in einem Brief an den Freund Siegfried ­Kracauer.1 Die Frau, um die es hier geht, ist keine andere als Lili Kracauer. Mitte der 1920er Jahre hatte sie Kracauer in Frankfurt am Main kennengelernt und war mit ihm nach ihrer Heirat im März 1930 nach ­Berlin übergesiedelt. Weitere Stationen des gemeinsamen Lebens waren Paris und – nach ihrer Flucht vor den Deutschen über Marseille und Lissabon – schließlich New York. Dort starb Lili Kracauer am 30. März 1971. Die letzten Jahre ihres Lebens hatte sie der Arbeit am Nachlass von Siegfried Kracauer gewidmet. Sie war von 1930 an seine Mitarbeiterin und war es über seinen Tod am 26. November 1966 hinaus ­geblieben. 


Auf den folgenden Seiten wird das Leben von Lili Kracauer anhand diverser Dokumente aus ihren Nachlass-­Papieren skizziert, die als Teil des Kracauer-Nachlasses im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt sind. Ein mit »Elizabeth Kracauer« signiertes Typoskript fasst unter der Überschrift »CURRICULUM VITAE« den Werdegang Lili Kracauers bis Ende der 1940er Jahre zusammen. Der kurze Text beginnt mit der Formel »Born at Strasbourg (then Germany)« und endet mit der Aussage »I am an American citizen.« Amerikanische Staatsbürger waren Lili und Siegfried Kracauer seit September 1946. Nach ihrer »entsetzliche[n] Flucht vor den Deutschen aus Paris [und] acht schweren Hungermonaten in Marseille mit missglückten Versuchen illegal durch Spanien zu gehen«2 waren sie Anfang März 1941 nach Lissabon und auf das vollkommen überfüllte Dampfschiff Nyassa gelangt, mit dem sie nach zehntägiger Überfahrt am 25. April 1941 schließlich im Hafen von New York landeten. Der 25. April war für die beiden seither »eine Art privater Feiertag«3 und die amerikanische Staatsbürgerschaft das zuletzt mit Geduld erwartete Ende ihrer über dreizehn Jahre dauernden Staatenlosigkeit. »Ja, es ist wirklich nur noch ein Jahr bis zu unserer zid-tissen-shipp«,4 heißt es in einem Brief Kracauers vom Frühjahr 1945. In der scherzhaften Schreibung von citizenship klingt an, dass mit der Immigration in die USA auch das Erlernen der neuen Sprache verbunden war. Lili Kracauer war im Elsass zweisprachig aufgewachsen und auch Siegfried Kracauer sprach Deutsch und Französisch. Das Englische wurde ihre dritte Sprache und zugleich die, in der Kracauer von 1941 an so gut wie ausschließlich publiziert hat.5 Für sein »großes Abenteuer, ein englischer Schriftsteller zu werden [hat er] entsetzlich gearbeitet«, und weiter im selben Brief: »Ich will mich auch nicht mehr länger mit Deutschland beschäftigen, das ist vorbei. Dagegen sind wir weiter tief an Frankreich interessiert.«6 Dass Kracauer hier von einem Satz zum anderen unvermittelt zum wir wechselt, zeigt: Was er hier von sich selbst sagt, galt zugleich für seine Frau. Sie teilte das fortbestehende Interesse an Frankreich und gewiss auch die entschiedene Abkehr von Deutschland, wenngleich dies bei ihr, die im Elsass geboren war, andere Gewichtungen gehabt haben muss. 


Die Eingangsformel ihres Lebenslaufes, Born at Strasbourg (then Germany), wirkt merkwürdig unbestimmt. Das Weglassen des Subjekts fällt auf, und mehr noch das Unterschlagen des Geburtsdatums. Der übliche Satz wäre I was born at Strasbourg, France, on May 6, 1893.7 Der unerwartete, eingeklammerte Zusatz (then Germany) überdeckt eine Leerstelle – die in ihrem Curriculum Vitae unterschlagenen ersten Stationen ihres Werdegangs – und markiert zugleich den ersten großen Bruch im Leben von Lili Kracauer. 


Als Hauptstadt des Reichslandes Elsass-Lothringen gehörte Straßburg zum Deutschen Kaiserreich, als Elisabeth Ehrenreich (d.i. Lili Kracauer) dort am 6. Mai 1893 zur Welt kam und auch noch während sie die dortige Städtische höhere Mädchenschule und ihre dreijährige Ausbildung zur Lehrerin für höhere Mädchenschulen absolvierte. Von 1912 an war sie in mehreren Kleinstädten Elsass-Lothringens vertretungsweise als Lehrerin tätig,8 Anfang 1917 erhielt sie schließlich »im Namen des Kaisers« eine staatliche Anstellung »an der städtischen höheren Mädchenschule zu Saarburg«.9 Nachdem die 1871 an Deutschland abgetretenen Regionen Alsace und Lorraine als Folge des Ersten Weltkriegs wieder an Frankreich angegliedert worden waren, wurde die Lehrerin Elisabeth Ehrenreich im Juni 1919 von der französischen Schulbehörde aus dem Schuldienst entlassen.10 Noch im selben Jahr ging sie nach Leipzig, studierte Violine und Klavier am Konservatorium für Musik und hörte an der Universität Vorlesungen in ihrem Hauptfach Kunstgeschichte, musste diese Studien jedoch nach wenigen Jahren abbrechen. Dass sie als junge Frau immerhin ein Jahrzehnt ihrem Beruf als Lehrerin gewidmet hatte, wird im amerikanischen ­Curriculum Vitae nicht erwähnt, festgehalten ist lediglich: »Education: College, Universities and ­Academies of Music at Strasbourg and Leipzig, taking my degrees in art history and philology.«11 In ihrer summarischen Darstellung fließen die Studien in Straßburg und Leipzig ineinander. Tatsächlich aber waren die beiden Stationen durch einen tiefen Einschnitt voneinander geschieden. Nach den Umwälzungen des Ersten Weltkriegs gab es das Land, in dem Elisabeth Ehrenreich aufgewachsen war, als solches nicht mehr. Ihre Entscheidung, Frankreich zu verlassen, hieß in Deutschland bleiben. 


Das einzige Relikt aus dem katholischen Straßburger Elternhaus, das sich in den Papieren von Lili Kracauer findet, ist ein dünnes Heft, dessen Seiten der Vater, August Ehrenreich, in verschnörkelter Schönschrift mit Sinnsprüchen und Gedichten von Goethe und Schiller sowie heute kaum mehr bekannten Autoren des 19. Jahrhunderts beschrieben hat. Mit Gedichten wie Versailles im Jahr 1870 von Hans Wachenhusen und Neujahr 1871 von Julius Rodenberg zeugt diese Textsammlung vom zeittypischen Nationalismus des Mannes, der in den 1880er Jahren aus dem damaligen Rheinhessen in das nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 gebildete Reichsland Elsass-Lothringen gekommen sein muss. Er war bei der »Kaiserlichen Generaldirektion der Eisenbahnen in Elsaß-Lothringen« mit Sitz in Straßburg als Sekretär beschäftigt. 1848 in Mainz geboren, verheiratete er sich im Januar 1891 in Straßburg mit Marie Caroline Vorhauer, geb. Amann. Die erste Tochter, Franziska, genannt Fränze, kam im April 1892 zur Welt, im Mai 1893 dann Anna Elisabeth, genannt Lili.12 Lili und ihre Schwester Fränze besuchten beide eine höhere Schule, Fränze studierte anschließend Klavier, während Lili die Ausbildung zur Lehrerin absolvierte. Lili scheint ihrem Vater August Ehrenreich enger verbunden gewesen zu sein als der 1855 im Elsass ­geborenen Mutter. Von ihr hat sich im Nachlass keine andere Spur erhalten als ein Geburtsregister-Auszug.13

Nach dem Tod des Vaters im April 1919 und ihrer kurz darauf erfolgten Entlassung aus dem Schuldienst ging Elisabeth Ehrenreich nach Deutschland, das heißt in die sich eben erst konstituierende Weimarer Republik. Nach Abbruch ihres Studiums in Leipzig übersiedelte sie nach Frankfurt am Main, was sie wieder mit ihrer dort lebenden Schwester Franziska zusammenbrachte, zu der sie ein sehr inniges Verhältnis hatte.14 1924 begann sie am neu gegründeten Institut für Sozialforschung der Universität Frankfurt als Bibliothekarin zu arbeiten.15 Möglicherweise im Umfeld des Instituts für Sozialforschung, irgendwann vor Jahresende 1925, lernten Elisabeth Ehrenreich und Siegfried Kracauer sich kennen.16 In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre unternahmen sie bereits gemeinsame Ferienreisen und Kracauers 1928 anonym erschienener Roman Ginster ist Lili gewidmet: »Für L. zur Erinnerung an Marseille 1926 und 1927«. Nach der Heirat im März 1930 gab Lili Kracauer ihre Stelle als Bibliothekarin auf und wurde die Mitarbeiterin ihres Mannes.17 Im April folgte dann der Umzug nach Berlin, wo Kracauer die Leitung der Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Zeitung übernahm. Das Curriculum Vitae weist in dem Zusammenhang einen bemerkenswerten Lapsus auf. Es heißt dort, Kracauer sei bis 1930 Redakteur der Frankfurter Zeitung gewesen. Diese falsche Datierung tilgt die Berliner Jahre, die im Februar 1933 mit der Flucht nach Paris abrupt endeten. Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand war Siegfried Kracauer gewarnt worden, als Nazigegner sei er von Verhaftung bedroht, woraufhin er und seine Frau Berlin unverzüglich auf getrennten Wegen verließen.18

Anfang März 1933 fanden sie sich als Emigranten in Paris wieder. Dieser biographische Bruch bleibt im Curriculum Vitae hinter der Formulierung »From 1930 to 1945 I did extensive research for my husband« ebenso unsichtbar wie die Flucht aus Europa 1941. Es geht in dem kurzen Lebenslauf freilich nicht darum, existentielle Verwerfungen aufzuzeigen, vielmehr hat der Text den einzigen Zweck, Qualifikationen herauszustellen. Erwähnt ist darin noch ihre Arbeit als Übersetzerin, verknüpft mit dem vagen Hinweis auf Beiträge in Zeitungen und Anthologien. Zu bemerken bleibt, dass sie abschließend ihrer französischen Seite den Vorrang gibt, wenn sie schreibt: »In sum, I am a trained librarian and research worker, with a solid cultural background and an intimate knowledge of Europe, in particular France and Germany. I command three languages: French, German, English.« Durch ihre Herkunft aus dem Elsass war Lili Kracauer mit Kultur und Sprache Frankreichs aufs Beste vertraut, was in den Jahren der Emigration gewiss einen Vorteil für sie und auch ihren Mann bedeutete. Nachdem Siegfried Kracauer im September 1939 als »feindlicher Ausländer« in einem Lager außerhalb von Paris interniert worden war, nahm sie alle erdenklichen Anstrengungen auf sich, um seine – nach zwei Monaten schließlich erfolgte – Entlassung zu erwirken. Kracauers diesbezügliche Instruktionen und ihre Mühen sind in sechs Briefen und 50 Postkarten dokumentiert, die während dieser Wochen von beiden auf Französisch geschrieben wurden. In der verzweifelten Lage konnte Kracauer sich fest auf seine Frau verlassen: »Je suis si ému de tes efforts inlassables et du courage avec lequel tu téléphone à tout le monde et fais tant de visite. Tu es la meilleure des femmes; je t’adore, mon Toutou, je t’aime. En pensant à toi, je me sens si léger, si confiant, si heureux.«19

In den ersten schweren Jahren in New York trug Lili Kracauer durch Jobs zum Lebensunterhalt bei, für die sie als Akademikerin überqualifiziert war. Die im Curriculum Vitae gebrauchte Berufsbezeichnung research worker steht einerseits für ihre Tätigkeit bei Organisationen, die in den 1940er Jahren Nachforschungen über displaced persons in Europa anstellten,20 passt aber andererseits auch für Arbeiten, die sie von 1930 an für ihren Mann übernahm: das Sammeln und Aufbereiten von Material. Sie hat für Siegfried ­Kracauer gelesen und exzerpiert, Indices erstellt sowie Korrekturen und Druckvorbereitungen übernommen. Kurz: Sie war an seinen Arbeiten von den vorbereitenden Recherchen bis zur Drucklegung beteiligt. Das hat Kracauer nicht nur in Briefen immer wieder betont, sondern auch öffentlich gewürdigt, wie etwa in der Vorbemerkung zu From Caligari to Hitler (1947): »Schließlich möchte ich meiner Frau danken, obwohl alles, was auch immer ich sagen könnte, um ihr zu danken, unzulänglich wäre. Wie immer half sie mir bei der Vorbereitung dieses Buches, und wie immer zog ich großen Gewinn aus ihrer Gabe, das Wesentliche wahrzunehmen und zu seinem Kern durchzudringen.«21 Entsprechend heißt es in den Danksagungen zu Theory of Film (1960): »Obwohl ich mir darüber klar bin, daß meine Frau es vorziehen würde, im Hintergrund zu bleiben, kann ich es unmöglich unterlassen sie hier zu nennen: die Sicherheit ihres Urteils und die Weite ihrer Einsicht waren mir unendlich wertvoll.«22

In ihrer Zusammenarbeit waren die beiden offensichtlich ein perfektes Gespann. Die Aufgaben waren klar verteilt: Lili Kracauer brachte ihre Fähigkeiten und Sichtweisen in die Publikationen des Autors ­Kracauer ein. Diese Arbeitsteilung folgte konventionellen Geschlechterrollen, wie auch der Umstand, dass die Mitarbeiterin als solche im Hintergrund blieb. Das beschreibt jedoch lediglich die nach außen getragenen Facetten der Verbindung. Notizen von Lili Kracauer aus den Jahren nach dem Tod ihres Mannes eröffnen eine andere Perspektive auf ihre Rolle. Auf handschriftlich beschriebenen kleinen Zetteln finden sich unterschiedliche Listen mit zu erledigenden Arbeiten, Verhaltensregeln und ihre innere Haltung betreffenden Maximen: 


»– Work for books […] – Letters sortieren […] – Wohnung: Bücher richten – Schränke neu sortieren […] – Photomaterial untere Schublade sortieren […] öfter während des Tags 1/4 St. hinlegen, besonders vor wichtigen Tel.-Gesprächen. Wenn doch müde, dann achtgeben, sehr gentle; und vor allem, kurz-knapp«. »Nie von mir als einzelnen [sic!] Menschen denken, der ich nie war, denn ich kann nur existieren als 2. Das verschiebt enorm (Proust) die Perspektive zum Leben und sich selbst. Weiterhin zusammen als eine Einheit leben. […] Disciplined, Dignified, […] Seine Aura und Liebe, von der ich mich mein ganzes Leben genährt, nun auch ausstrahlen.«23

Eines der vielen kleinen Blätter trägt am Rand die Worte »Love is there«. Diese Liebe ist im gemein­samen Arbeiten produktiv geworden. Das bedeutet keine idealistische Überhöhung, sondern entspricht der Wirklichkeit: Am Leben Kracauers, der zumeist sieben Tage die Woche arbeitete, konnte nur eine Frau Anteil haben, die fähig und willens war, sich in sein Denken und Schreiben einzubringen. Dass Lili ­Kracauer an der »geistigen Existenz« Kracauers intensiv teilhatte, stand für Freunde außer Zweifel, und sie bewunderten, mit welch »hellem und ruhigem Bewusstsein [er] das Ereignis einer solchen Verbindung verwirklichen« konnte.24

Kracauers Tod änderte nichts daran, dass in Lili Kracauers Leben die Arbeit für ihren Mann im Mittelpunkt stand. Wie bisher wollte sie sich nicht als einzelnen Menschen begreifen und blieb bestrebt, auf der »Denk-Ebene« mit Kracauer zu leben. Durch das Aufschreiben erinnerter Redewendungen Kracauers wie »Halt dich gut. Du wirst es schon gut machen. Du machst es immer gut« oder »Pfleg Dich gut, damit Du für mich kämpfen kannst« vergegenwärtigte sie sich seinen Zuspruch ebenso wie seinen Anspruch. Das musste ihr umso notwendiger scheinen, als Kracauers Arbeit und Andenken ihrer Sicht nach zu verteidigen waren – auch gegen den Zugriff von Freunden, allen voran Adorno: »Das möchte denen T–ies und Consorten so passen, wenn ich aus Schmerz versagte.« Wie entschlossen und gewandt sie (T–­[­eddie]) Adorno entgegentrat, zeigen vor allem auch die Briefe, in denen sie einen von Adorno verfassten Nachruf im Detail kritisierte.25 So schrieb sie beispielsweise von ihrer Verwunderung über die Erwähnung von vielen »Handikaps«, kannte sie doch nur die »Sprachnervosität« und »diese war schon in der Berliner Zeit vollständig verschwunden«; die diesbezüglichen Erklärungen, die Adorno im Antwortbrief gab, waren nicht überzeugend, und so beharrte sie auf ihrem Standpunkt: »Selbstverständlich bin ich dafür, dass antisemitische Unbilden in der Schule nicht unterschlagen werden. […] Nur fürchte ich, dass diese Unbilden in den Worten ›unter vielen Handikaps‹ nicht mehr sichtbar werden. Freunde und andere fragten mich erschrocken nach Gebrechen, die sie doch nie an Friedel bemerkt haben.«26 Mutig für Kracauer einzutreten war ihr nichts Neues, auch wenn sie als Mitarbeiterin im Hintergrund geblieben war. In ihren Notizen heißt es: »Alles was kommt, kämpfen wir weiter zusammen durch und ich, wie immer für T. T.27 wie eine Löwin für ihr Kind. […] und wie immer muß ich diese Zügel in die Hand nehmen. Ich muß Formel finden, so für ihn zu sein wie er mich so gern von seinen Freunden gesehen haben wollte – […].« 


Im Zusammenwirken mit ihrem Mann scheint Lili Kracauer, wie man aus diesen Aufzeichnungen schließen könnte, aus einer Position der Stärke agiert und mitunter die Richtung vorgegeben zu haben, wenngleich sie in ihrem Auftreten wiederum einem Ideal Kracauers zu entsprechen versuchte. Die enge Bindung der beiden bestand über Siegfried Kracauers Tod hinaus, und seine Witwe suchte darin weiter Halt, wenn sie sich ermahnte: »Was würde Toutou sagen, wenn ich mich so schwach werden ließe durch meine Verzweiflung, daß ich nicht für seine Arbeit, seine Erbschaft an mich aufkommen könnte?« Dieses Erbe anzutreten hieß, ihr Leben bis zuletzt den daraus erwachsenden Aufgaben zu widmen.28

In der Zeit nach Siegfried Kracauers Tod unterstützte sie Oskar Kristeller bei der Herausgabe von History. The Last Things Before the Last (1969) und war danach auch in die Vorbereitungen für die 1971 erschienene deutsche Ausgabe bei Suhrkamp involviert. Wenige Wochen vor ihrem Tod schrieb sie noch an ­Siegfried Unseld: »Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass in der Anzeige [im Frühjahrsprogramm von ­Suhrkamp] die Uebersetzung des Untertitels zu meiner Bestuerzung nicht stimmt. Sie muss ­natuerlich heissen: Die ›vorletzten Dinge‹ – The Last Things Before the Last sind der Kernpunkt der Theorie, entgegengesetzt den letzten Dingen.«29 Dieser gewichtige Einwand wurde bis heute augenscheinlich nicht berücksichtigt: der Titel aller bisherigen deutschen Ausgaben lautet Geschichte. Vor den letzten Dingen.

Im Jahr 1970 war Lili Kracauer noch einmal in Deutschland, unter anderem zu Gesprächen mit Siegfried Unseld. Diese Reise hatte sie im September, durch die damaligen Flugzeugentführungen und die Ereignisse im Nahen Osten an ihre »eigenen Erfahrungen in der Hitlerzeit und im letzten Weltkrieg« erinnert,30 vorzeitig in großer Eile abgebrochen. In ihrem Taschenkalender notierte die 77jährige »Unscheduled quick departure. Everything went well.« Der überstürzte Rückflug nach New York war dadurch motiviert, dass Lili Kracauer vor allem eines nicht wollte, nämlich »von dem Nachlass-Material [ihres] Mannes […] getrennt sein«,31 an dem sie bis zuletzt arbeitete. Ein weiterer Grund ihrer Europareise waren »Nachforschungen« im Archiv der Stadt Frankfurt und in der Frankfurter Zeitung »für eine eventuelle Arbeit ueber [ihren] Mann« gewesen.32 Die Absicht dazu stand möglicherweise in Zusammenhang mit einem der drei noch von Kracauer geplanten Bücher, »darunter eine ganz neue Art und Form einer Autobio­graphie. Hélas…«,33 wie Lili Kracauer Ende 1969 in einem Brief mitteilte. Ihr Bedauern, dass es dazu nicht mehr kam, könnte sie veranlasst haben, etwas Derartiges selbst in Angriff zu nehmen. Ihre Recherchen im Frankfurter Stadtarchiv könnten ein Hinweis darauf sein, wenngleich sich in ihren Nachlass-Papieren keine Spuren einer solchen Arbeit finden. Es sei denn, man wertet ein mit den Fotos archiviertes Kuvert in diesem Kontext. Besagtes Kuvert trägt die Aufschrift »Curriculum vitae in pictures (Friedel)«, kam aber allem Anschein nach leer ins Deutsche Literaturarchiv Marbach. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass zumindest der Plan bestanden haben könnte, Kracauers Lebenslauf in Bildern nachzuzeichnen. Dazu fügt sich, dass Lili Kracauer im Frankfurter Stadtarchiv nach Fotos des Philanthropins – des Reformrealgymnasiums der israelitischen Gemeinde, das Kracauer besuchte – und des Gebäudes der Frankfurter Zeitung anfragte34 und 1970 auch Abzüge von Kracauer-Porträts machen ließ.35 Das Projekt einer Autobiographie oder Biographie ganz neuer Art und Form betreffend kommt man jedoch nicht über Spekulationen hinaus. Wahrscheinlich waren die Porträtfotos für ein bei Suhrkamp damals geplantes Dossier gedacht, das die deutsche Ausgabe von Geschichte ankündigen sollte.36 Ende 1970 schickte Lili Kracauer auf Anfrage Fotos an Siegfried Unseld: »Ich sende Ihnen hier fuenf (5) Photographien von meinem Mann. Sie sind chronologisch nummeriert.«37 Eines dieser fünf Fotos muss das vom Suhrkamp Verlag seither verwendete Kracauer-Porträt gewesen sein. Dieses Bild gibt dem Autornamen Siegfried Kracauer bis heute das öffentliche Gesicht.
 

ANMERKUNGEN 


1 Die Briefstelle findet sich als Abschrift in den Papieren von Lili Kracauer. KN DLA.


2 Siegfried Kracauer an Friedrich Gubler, Brief vom 
10. September 1945, KN DLA.


3 Lili und Siegfried Kracauer an Marlise und Eugen Schüfftan, Brief vom 22. April 1944; zitiert aus: Helmut G. Asper (Hg.), Nachrichten aus Hollywood, New York und anderswo. Der Briefwechsel Eugen und Marlise Schüfftan 
mit Siegfried und Lili Kracauer, Trier 2003, S. 57.


4 Ebd., Kracauer an Schüfftan, Brief vom 31. März 1945, S. 60.


5 Vgl. von Moltke und Rawson (Hg.), Siegfried Kracauer’s American Writings, a.a.O., S. 2. 


6 Siegfried Kracauer, Brief an Friedrich Gubler, 20. Mai 1946, KN DLA.


7 In ihrer Passport Application von 1956 etwa hat sie in das vorgedruckte Formular »I solemnly swear that I was born at« entsprechend eingefügt »Strasbourg, France, 
on May 6, 1893«. KN DLA.


8 Der Schulabschluss im Sommer 1909 ist durch ein Entlassungszeugnis belegt, die Ausbildung zur Lehrerin durch 

ein Prüfungszeugnis vom Juni 1912. In einer tabellarischen Übersicht über Tätigkeiten als Lehrerin an höheren Mädchenschulen sind für diese Jahre folgende Orte aufgelistet: Weißenburg, Dorlisheim, Barr, Saarburg, Forbach und wieder Saarburg. KN DLA.


9 Das belegt die am 18. Januar 1917 ausgestellte »Ernennungsurkunde für die Lehrerin Elisabeth Ehrenreich«. 
KN DLA. Bei Saarburg handelt es sich um die französische Gemeinde Sarrebourg, Département Moselle, Region ­Lorraine, nicht um die gleichnamige deutsche Stadt in Rheinland-Pfalz.


10 »Wie sich bereits aus den Akten ergibt, erhielt ich im September 1915 die Verwaltung einer Lehrerinnenstelle 
an der Städtischen höheren Mädchenschule in Saarburg; 
im Januar 1917 wurde ich daselbst als Lehrerin staatlich 
angestellt. Nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde ich – Mitte Juni 1919 – von der französischen Behörde meines Amtes enthoben.« Lili Kracauer, »›Erklärung‹ an eine deutsche Behörde«, Typoskript, 8. November 1963. KN DLA.


11 Lili Kracauer, »Curriculum Vitae«, Typoskript, nicht datiert. KN DLA.


12 Es gab noch eine ältere Halbschwester, die 1882 
geborene Maria Mathilde, aus der ersten Ehe der Mutter 
mit dem Lokomotivführer Oswald Vorhauer. 


13 Der Geburtsregister-Auszug wurde am 25. Oktober 1939 ausgestellt. KN DLA.


14 Franziska Katz-Ehrenreich (1892–1934) war Pianistin und mit dem Maler Hanns Ludwig Katz (1892–1940) 
verheiratet. Über das Leben der beiden informiert der 
Ausstellungskatalog Hanns Ludwig Katz, herausgegeben vom Jüdischen Museum, Frankfurt am Main 1992.


15 »Da in der Inflation mein ererbtes Vermoegen verloren ging, das mir die intensive Fortsetzung meiner Studien ermoeg­licht hatte, nahm ich im Jahre 1924 eine Stellung 
als Bibliothekarin am Institut fuer Sozialforschung an 
der Universitaet in Frankfurt am Main an, die ich bis 1930 
innehatte.« Lili Kracauer, »Erklärung an eine deutsche Behörde«, Typoskript, 8. November 1963. KN DLA. Als 
Referenz für ihre Tätigkeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung nennt sie im »Curriculum Vitae« »Professor Max Horkheimer, now affiliated with Columbia University.« KN DLA.


16 Die erste Begegnung ist bisher nicht genau datiert, muss jedoch vor Ende 1925 liegen. In der Kracauer-Bibliothek steht eine Erstausgabe von Franz Kafka, Ein Landarzt mit der handschriftlichen Widmung »Für Lili / Weih­nachten 25. / Friedel«. KN DLA.


17 »Am 5. Maerz 1930 verheiratete ich mich mit Dr. Siegfried Kracauer, der in seiner ausgedehnten Taetigkeit als Redakteur der ›Frankfurter Zeitung‹, als Sozialwissenschafter [sic] und als Autor auf Mitarbeiter angewiesen war. Dank meiner langjaehrigen und vielseitigen beruflichen Ausbildung war ich in der Lage, alle fuer meinen Mann erforderlichen Arbeiten zu übernehmen. Meine Taetigkeit für ihn bestand in der Suche nach Material, Herstellung von Exzerpten, Korrekturlesen, einem umfangreichen Schriftverkehr, usw.« Lili Kracauer, »Erklärung an eine deutsche Behörde«, Typoskript, 8. November 1963. KN DLA. 


18 Vgl. Belke/Renz, Siegfried Kracauer 1889–1966, a.a.O., S. 70. Dort heißt es, Kracauer sei von einem Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung gewarnt und zu einem Arbeitsurlaub nach Paris geschickt worden. Während Lili Kracauer direkt nach Paris gefahren sei, habe er Station in Frankfurt am Main gemacht.


19 »Deine unablässigen Anstrengungen und die Beherztheit, mit der du überall anrufst und so viele Besuche machst, bewegen mich sehr. Du bist die allerbeste Frau; ich bewundere dich, mein Toutou, ich liebe dich. Wenn ich an dich denke, bin ich so erleichtert, so zuversichtlich, so glücklich.« (Übers. d. Hg.). Siegfried Kracauer an Lili ­Kracauer, Brief vom 30. September 1939. KN DLA. 
Zur Entlassung aus der Internierung waren fünf »Ehren­erklärungen« notwendig; vgl. Belke/Renz, Siegfried Kracauer 1889–1966, a.a.O., S. 95.


20 Central Location Index von 1945 bis 1948; United Service for New Americans von 1948 bis 1950. Vgl. »Erklärung an eine deutsche Behörde«, Typoskript, 8. November 1963. 
KN DLA.


21 Kracauer, Von Caligari zu Hitler, in: Werke Bd. 2.1, S. 10.


22 Kracauer, Theorie des Films, in: Werke Bd. 3, S. 23.


23 Diese und die folgenden schriftlich fixierten Vorsätze und Erinnerungen an Kracauer finden sich auf mehrere lose Zettel verteilt in den Papieren von Lili Kracauer. 
KN DLA (Hervorhebung der Hg.)


24 Friedrich Gubler an Siegfried Kracauer, Brief vom 9. März 1935, zitiert aus einer Abschrift von Lili Kracauer. KN DLA.


25 Lili Kracauer an Theodor W. Adorno, Briefe vom 19. März und 27. März 1967. KN DLA. Die Briefe nehmen Bezug auf den Nachruf auf Siegfried Kracauer, den Adorno damals für den Tagungsband der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik geschrieben hatte: Theodor W. Adorno, »Nach Kracauers Tod«, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Poetik und Hermeneutik. Die nicht mehr schönen Künste, München 1968, S. 6–7. 


26 Lili Kracauer an Theodor W. Adorno, Briefe vom 19. und 27. März 1967. KN DLA.


27 T.T. oder auch T.t. ist Abkürzung für Toutou (in der Bedeutung »Ein und Alles«), ein in den Nachlasspapieren vielfach belegter Kosename, mit dem Lili und Siegfried Kracauer einander wechselseitig benannten. KN DLA.


28 »Mein Leben hier ist weiterhin Arbeit für meinen 
Mann und sie ist […] der einzige Sinn meines Lebens.« 
Lili Kracauer an Annemarie und Fritz Wahl, Brief vom 
25. Dezember 1969. KN DLA. In derselben Weise äußerte 
sie sich in weiteren, im Nachlass erhaltenen Briefen. 


29 Lili Kracauer an Siegfried Unseld, Brief vom 17. Februar 1971. KN DLA.


30 Lili Kracauer an Annemarie und Fritz Wahl, Brief 
vom 4. Oktober 1970. KN DLA.


31 Lili Kracauer an Annemarie und Fritz Wahl, Brief 
vom 4. Oktober 1970. KN DLA.


32 Lili Kracauer an Siegfried Unseld, Brief vom 19. Juni 1970. KN DLA. Im September 1970 sorgte die Entführung von fünf Passagierflugzeugen für Unruhe, die in Zusammenhang mit dem damaligen jordanischen Bürgerkrieg standen. 


33 Lili Kracauer an Annemarie und Fritz Wahl, Brief 
vom 25. Dezember 1969. KN DLA.


34 Lili Kracauer an Dietrich Andernacht (damaliger Leiter des Frankfurter Stadtarchivs), Brief vom 5. Februar 1970. KN DLA. Die angeforderten Fotos befinden sich im Nachlass.


35 Dafür sprechen Einträge im Kalender von Lili Kracauer, Termine in ihrem bevorzugten New Yorker Fotolabor »Modernage«. KN DLA.


36 Am 4. November 1970 schrieb Siegfried Unseld an Lili Kracauer: »[…] der Suhrkamp Verlag wird […] ein sogenanntes ›Dossier‹ herausgeben. Dieses enthält die Ankündigung der Ausgabe, ein Foto (vielleicht verschiedene Fotos aus verschiedenen Jahren, wenn Sie uns diese schicken können) […].« KN DLA. 


37 Lili Kracauer an Siegfried Unseld, Brief vom 30. November 1970. KN DLA.

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Maria Zinfert

Maria Zinfert

arbeitet in Berlin als freie Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin. Sie promovierte über die Romane von Victor Segalen und hat mehrere seiner Texte ins Deutsche übertragen. Sie forscht derzeit über Archivfotos deutschsprachiger Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts und hat bereits mehrere Beiträge zu den Fotografien aus Kracauers Nachlass veröffentlicht.

Weitere Texte von Maria Zinfert bei DIAPHANES
Maria Zinfert (Hg.): Kracauer. Fotoarchiv

Maria Zinfert (Hg.)

Kracauer. Fotoarchiv

Mit Fotografien von Elisabeth Kracauer und Siegfried Kracauer

Gebunden, 256 Seiten

Das Fotobuch »Kracauer. Fotoarchiv« zeigt bisher unbekannte fotografische Materialien aus dem Nachlass des Soziologen, Feuilletonisten und Filmtheoretikers Siegfried Kracauer: Portraits, Stadt- und Landschaftsaufnahmen eröffnen Einblicke in den durch Flucht und Exil geprägten Lebensweg des Autors und seiner Ehefrau Elisabeth, genannt Lili. Die von 1930 an entstandenen Porträtfotos von Kracauer hat sämtlich seine Frau aufgenommen, und auch Kracauer selbst hat fotografiert, wie die Abzüge, Kontakte, Filmrollen und handschriftlichen Materialien erweisen. Zwar waren beide keine professionellen Fotografen, doch markieren ihre Bilder dem ästhetischen und technischen Anspruch nach ein eigenes Feld des Fotografischen: Der Blick des großen Fototheoretikers trifft sich hier mit dem der Kunsthistorikerin und aufmerksam operierenden fotografischen Autodidaktin Lili Kracauer. Das Buch erzählt mithin auch die Geschichte der engen Zusammenarbeit zwischen Lili und Siegfried Kracauer – von den frühen 1930er Jahren nach ihrer Heirat in Deutschland über das Pariser Exil bis zu den Kriegs- und Nachkriegsjahren in den USA.