Nutzerkonto

Joch des Seins

Andreas L. Hofbauer

Joch

Veröffentlicht am 26.10.2018

EN

Im Oktober 1968 veröffentlicht Marshall Sahlins in Les Temps Modernes einen Artikel mit dem Titel »La première société d’abondance«. Eine erweiterte englische Fassung erscheint 1972 in seinem Buch Stone Age Economics. Was meint er mit der »ursprünglichen Überflussgesellschaft«? Skizziert werden Beobachtungen aus Feldforschungen zu Wildbeuter-Kollektiven, die im Widerspruch zu den bürgerlichen Vorstellungen vom »ökonomischen« Menschen stehen. Diese Befunde werden hinter die neolithische Revolution bis ins Spätpaläolithikum zurück verlängert und von dort her bestätigt. Hatte man den Jägern und Sammlern ein Leben in beständiger Angst, Elend und Armut nachgesagt sowie sie den Naturgewalten hilflos ausgeliefert gesehen, zeichnet sich nun ein Bild von mobilen Gruppen ab (Besitz belastet) die Territorien durchwandern, ihre Arbeitszeit auf ein Minimum beschränken (drei bis fünf Stunden pro Tag), alles nutzen, was ihnen »zur Hand ist« und denen das gemeinsam aus den reichhaltigen natürlichen Beständen »Abgeschöpfte« zur Sicherung all ihrer materiellen Bedürfnisse genügt. Für diese Gruppen bestimmt geselliges Zusammenleben sowie sharing aller Ressourcen den sozialen Zusammenhalt, sie bilden eine umherstreifende Assemblage aus Tieren, Pflanzen und Menschen und ihre »Wirtschaft« ist zwar mit Teilung (nemein) vertraut, verzichtet jedoch auf Haus (oikos), Hort und Sesshaftigkeit. Wer also geneigt ist Jäger und Sammler als arm zu bezeichnen, wäre besser beraten sie als frei zu begreifen, wie Sahlins anmerkt. Ihre Um-Züge werden demnach nicht von Furcht und Mangel angetrieben, sondern sind mäandernde Wanderungen, die zuweilen gar die »Qualität eines Picknicks an der Themse« besitzen. »It was not until culture neared the height of its material achievements that it erected the shrine to the Unattainable: Infinite Needs.« Wir müssen uns die Wildbeuter als glückliche Menschen vorstellen. Schlüssig konnte bislang kein stichhaltiger Einwand gegen diese Thesen vorgelegt werden und Sahlins’ Schüler David Graeber hat sie auf seine Weise verlängert. Die Bildzeugnisse aus dem 11. Jahrtausend v. Chr. an den Felswänden der Sahara, angefangen bei der frühesten Bubalus-Epoche, nach dem ausgestorbenen Auerochsen oder Ur (Bos taurus primigenius) benannt, dem Ahnen unserer heutigen Rinder, dessen geschwungene Hörner die gewaltige Spannbreite von bis zu drei Metern erreichten, bezeugen den Jäger-Menschen in einer Szenerie voller Tiere, in welcher er als zusätzliches zoon seine kleine, anfänglich auch größenmäßig so dargestellte, Rolle spielt. Archäologische Funde der letzten Jahrzehnte, Datierungsgenauigkeit durch die C14-Methode, paläobotanische und paläozoologische Forschung sowie neuere anthropologische und philosophische Überlegungen rücken nun aber den Beginn jener neolithischen Revolution, also das Ende diesen Zustands und den Beginn der Sesshaftigkeit, des Landbaus, der Domestizierung und der Viehzucht, in immer weiter entfernte Epochen.

Vor 12.000 Jahren errichteten solche Wildbeuter im Gebiet des sogenannten Fruchtbaren Halbmonds in Göbekli Tepe, an der heutigen türkisch-syrischen Grenze, einen Kultort mit gewaltigen Steinpfeilern versehen mit Bildzeichen, teilweise sieben Meter hoch und fünfzig Tonnen schwer. Historisch gesehen also etwa 6.000 Jahre vor der Uruk-Kultur. Im Einflussbereich dieser Stätte weiter westlich lag eine der ersten uns bekannten »Städte«, Çatalhöyük, die zu unterschiedlichen Zeiten zwei- bis achttausend Einwohner beherbergte. Dort lässt sich auch eindrücklich erstes domestic living größerer Menschengruppen nachweisen, wenngleich wir uns dieses Haus (domus) differenziert denken müssen. Häuser aus ungebranntem Lehm wurden dicht aneinander gebaut, von oben her betreten und auf Gassen verzichtet. In den inneren »Wohnbereichen« finden sich Herd- und Grabstellen. Diese Gräber hat man wiederholt geöffnet, menschliche Knochen und vor allem Schädel zwischen den Hausgemeinschaften getauscht, mit Ocker gefärbt und hernach neu arrangiert. Diese Grabstellen waren keine Ruhestätten für Ahnen eines Familienclans, sondern die Gebeine zirkulierten, wurden immer wieder neu, und ungeachtet des »Geschlechts«, zusammengestellt und -gelegt. Während sich im Hausinneren auch Knochen bereits domestizierter Rinder nachweisen lassen, war der Wandschmuck von gewaltigen Bukranien, Schädel und Gehörn des erlegten wilden Ur, bestimmt; der Rinderschädel selbst in die Wand eingelassen, nur die Hörner sichtbar. Die Wände wiesen auch zahlreiche an Brüste gemahnende Ausformungen auf, die Bärenkrallen oder Gebissteile von Tieren enthielten. Vor dem Gehörn wurden menschliche Schädel in Körben niedergelegt. Die wabenartig aneinanderklebenden Häuser bildeten ein Komposit- und Kollektivarrangement, zwischen Haus und Grab (oikos), Kult- und Wohnstätte, ein entanglement menschlicher und nicht-menschlicher Aktanten, umgeben von großen Feld- und kleineren Gartenanlagen sowie steinernen Gattern für die Herden.

Nicht durch Natur und ihre Fährnisse wurde Domestizierung erzwungen und der ökonomische Schrein ermöglicht. Tempel- und Totenkult, Opferung und Verteilung des Fleisches – noch für Homer sind alle Schlachttiere hieria, heiliges Vieh – und die Einhegung der Wildheit produzieren symbolischen und soziokulturellen Wandel, der für sesshafte, nahrungsproduzierende Gemeinschaften zu Vektor und Motor wird. Nicht Schafe, Ziegen oder Rinder domestizierte man im Anfang, sondern das zoon logon echon selbst war es, das sich vor und unter dem selbstgeschaffenen Kult-Joch verneigte. Warum, wissen wir nicht. Darüber hinaus ist entscheidend, dass, anders als bei den Pflanzen, sich nur sehr wenige Tierarten domestizieren (zur Ressource machen) lassen und man diesen Vorgang nicht mit Zähmung verwechseln sollte. Als Epiphänomen entwickelt sich ökonomischer Sinn. Er transformiert sich vom möglichen Menschenopfer, zum Tieropfer, zu Fleischteilung, in der Frühzeit der »griechischen« Antike dann zu den obeloi (Bratspieße, versehen mit unterschiedlichen Verdickungen, die als Token für den Fleischsold der Priester oder Richter dienten; selbst das Wort drachmé bedeutet noch wörtlich eine »Handvoll Spieße«), die schließlich wiederum durch nomisma (geprägte Münzen und Umlaufgeld) ersetzt wurden.

Zwischen den ersten mit Schriftzeichen versehenen Tontafeln (im 3. Jahrtausend v. Chr.) und Göbekli Tepe liegt ein größerer zeitlicher Abstand als zwischen diesen Tontafeln und unserer Gegenwart. Die Vereinfachung auf fünfundzwanzig Phonem- und Lautzeichen datiert etwa auf das 12. Jahrhundert v. Chr. und lässt sich mit Sicherheit erstmals im syrisch-palästinischen Raum fassen. Bei diesem Alphabet wurde jedem Phonem ein Merkwort zugewiesen, welches das Memorieren erleichtern sollte. Wenig verwunderlich nahm es seinen Anfang mit Ochse (sprich: alpu) und setzte mit Haus (sprich: betu) fort. א (alef), ב (bet) im Althebräischen. Dieser comic strip (Walter Burkert) wird im Griechischen als α und β übernommen, das zwar die Wortbedeutungen nicht mehr kennt, aber Vokale für den Gesang notiert (das Alef war ein Knacklaut, den Moses am Berg Sinai zuerst vernahm, als der Elohim ’anochi – »Ich bin der ich bin« – sprach, während unten ums Goldenen Kalb getanzt und gesungen wurde). Horn und »Busen« bleiben grafisch erhalten. Zuerst drückte man » in den nassen Ton (Horizontlinie und Kopf des Rindes sind deutlich erkennbar), dies drehte sich dann nach geraumer Zeit um 45 Grad nach rechts (was sich dem althebräischen Zeichen für Pflug anglich), um sich schließlich als A zu fixieren (wobei der horizontale Strich nun deutlich aufs Joch der Domestikation verweist). Der Ochse im Anfang des Alphabets und unsere Währungszeichen wie £, ¥, $, €, ₱, Ƀ – um nur einige anzuschreiben – sind bleibende sakral-grafische Markierungen sowohl im Feld der Schrift wie des Pekuniären.

Ist Geld eine Form der Rede (speech), wie es der Oberste Gerichtshof der USA mit seinem Urteil im Fall Citizens United vs. Federal Election Commission bereits bestätigt hat, dann wird auch der Zugang zur besten Form der monetären Kommunikation über kurz oder lang als Grundrecht gelten und frei sein müssen. In solchem Falle sind selbstverständlich die Enthusiasten nicht fern ... die nun zumindest das Geld selbst befreien wollen. Befreien vom Knochen, den materiellen Trägern, Göttern, Regierungen, PayPal, JPMorgan Chase & Co. oder was auch immer. Die Blockchains der digitalen P2P-Kryptowährungen versprechen nichts weniger als Geldwertmehrung im Überfluss unter Ausschluss des allfälligen symbolischen Dritten. Roger Ver, dem man später den Spitznamen Bitcoin Jesus verlieh, war einer der ersten und entscheidenden Player in diesem Spiel. Am Lawrence Expressway in Santa Clara mietete er eine Plakatwand für 1.200 $ pro Monat. Sie zeigte eine riesige gleißende Goldmünze, auf der das Bitcoin-B prangte, mitten hindurch verlaufend die beiden parallelen Barren des Jochs.

Während das mining sich einem neuen Traum von müheloser Jagd und dem Aufsammeln hingibt, tönt der Kapitalzins dunkler und mahnt an eine andere Geburtsstunde: sein letzterer Wortteil leitet sich aus der weitaus älteren Gebrauchsleihe etwa von Werkzeugen oder Saatgut her und sein ersterer meint die Capita, also die abgezählten Häupter des Viehs; all das wurzelt in einer domestiziert-gehegten vegetativen Vermehrung – denn das griechische tokos (Zins) gehört zu tiktein (gebären).

So mag es gar den Anschein haben, als ob uns infinite needs und ewige Jagdgründe zu zwei Seiten derselben Münze geworden sind. Joch des Seins, denkwürdiges Gestell und ein sárko-phagos ohne Spalt.

  • Nomadentum
  • Anthropologie
  • Ethnologie
  • Ökonomisierung
  • Geld

Meine Sprache
Deutsch

Aktuell ausgewählte Inhalte
Deutsch, Englisch, Französisch

Andreas L. Hofbauer

ist Philosoph, Autor, Psychohistoriker und Übersetzer. In zahlreichen Büchern und Essays setzt er sich wiederholt mit ökonomischen und gesellschaftlichen Aspekten der Erkenntniswissenschaften auseinander. Gemeinsam mit Walter Seitter und Ivo Gurschler ist er Herausgeber der Schriften zur Vekehrswissenschaft. Zuletzt erschienen sind u.a. HER (gem. mit René Luckardt) und Bleibende Steinzeit. Er lebt und arbeitet in Berlin.
Weitere Texte von Andreas L. Hofbauer bei DIAPHANES