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»Ein Angriff auf das Allgemeine durch den Einzelfall«

James Agee

Die große Einweihung

Übersetzt von Sven Koch und Andrea Stumpf

Aus: Da mir nun bewusst wird. Prosa, Skripte, Projekte, S. 63 – 82

(Grobe Skizze für einen Film)



Eines Nachmittags zu Beginn des Frühlings 1946 beobachtete die an jenem hehren Ort zwischen Washington Obelisk und Lincoln Memorial versammelte und von einem großen Platz durch ein Seil ferngehaltene Menge die Staatsmänner, Diplomaten, Militärs, Wissenschaftler, Geistlichen, College-Präsidenten, Wochenschau-Kameramänner und Life-Photographen, die sich auf den eigens errichteten Bühnen eingefunden hatten, um im wechselhaften Sonnenlicht und unter unruhig flatternden Flaggen fast aller Nationen den neuen Triumphbogen einzuweihen, der jetzt und für alle Zeiten an die größte menschliche Errungenschaft überhaupt erinnern sollte.


Der Entwurf für den Bogen geht auf Frank Lloyd Wright zurück und ist dessen einzige Konzession an die Romanik; darüber hinaus gestaltete der Meisterarchitekt ihn frost- und erdbeben­sicher und schützte ihn gegen Kritzeleien und das Einritzen von Initialen. Der Bogen schimmerte kostbarer als die meisten Edelsteine – er war auch gar nicht aus Stein, sondern aus geschmolzenem Uran – und stand unter dem gebauschten, regenbogenfarbenen Tuch, welches noch seine Widmungsinschrift verhüllte, wie ein ­gefesselter königlicher Sklave der Antike mit maskiertem Gesicht und mächtigem nacktem Leib.


Aus den Lautsprechern, die recht geschickt unter dem Bogen versteckt waren und sich in den riesigen Flächen neu sprießenden Rasens wie Rabatten grauglänzender Prunkwinden ausnahmen, drang eine Sonderaufführung der »Ode an die Freude« aus Beethovens 9. Sinfonie in einer von Robert E. Sherwood betreuten Neuübersetzung durch Louis Aragon und Harry Brown, dirigiert von Arturo Toscanini im Studio 8-H im Rockefeller Center, wo ein geladenes Publikum die Einweihungszeremonie während der ersten großen Ringsendung des Fernsehens via Bildschirm verfolgte. 


Auch wenn die Übertragung noch nicht ganz reibungslos klappte, war es ein bewegender Anblick. Selbstverständlich fielen viele Vorreden noch länger und weniger überzeugend aus, als man es von Reden zu gewichtigen Anlässen gewohnt ist; es war nämlich weder den Rednern noch den Zuhörern klar, welche Idee dem Bogen zugrunde lag, welchen Zweck er hatte und wem oder was er gewidmet werden sollte: Die Redner waren daher sichtlich von dem unwiderstehlichen Drang getrieben, auf die Großartigkeit des Ereignisses hinzuweisen, indem sie ihm einen dauerhaften Altar errichteten, und gleichzeitig ihre Namen mit einigen angemessenen Worten mit diesem Moment zu verbinden – wie es nach wie vor viele Leute für nötig befinden, wenn beispielsweise ein Toter beerdigt wird. Daher war an den Reden Stimmkraft, Wortgewandtheit und eine bei jedem Redner spürbare geradezu übertriebene Verbindlichkeit und optimistische Haltung bemerkenswerter als ihr Inhalt oder gar dessen Vermittlung. Als die Reden dann endlich vorüber waren, war die Feier jedoch von großer Schlichtheit und erreichte, wie mehrere Europäer und viele der kultivierteren Einheimischen später im halbprivaten Gespräch übereinstimmend bekundeten, ein Maß an gutem Geschmack, das man von gewöhnlichen Amerikanern kaum erwarten konnte.


Schließlich und endlich kulminierte sie in einer Schweige­minute, in der nur die widerspenstigen Flaggen und insbesondere das Seufzen des großen Tuchs das Auge ablenkten. Toscanini (der Maestro dirigierte, wie selbst er noch nie dirigiert hatte) steuerte eine Generalpause kurz vor jenem majestätischen Moment in Beethovens Sinfonie bei, wenn die Bässe, flankiert von Posaunen und Sopranen, folgende Verse intonieren:


Seid umschlungen, Millionen!


Diesen Kuss der ganzen Welt!

– Verse, bei denen die Übersetzer nach ernsthaften Diskussionen, ob sie das recht überschwängliche und vielleicht allzu teutonische Wort »Kuss« durch das entschieden whitmaneskere und männlichere, kameradschaftlichere, kurz gesündere Wort »Gruß« ersetzen sollten, zu dem Schluss kamen, dass es unmöglich zu verbessern sei. Während dieser Pause war auch das gedämpfte lateinische Gerassel zu vernehmen, mit dem vier krähenartige Kardinäle fast im Gleichschritt zur großen Einweihung eilten, ihre Stimmen untermalt von dem aus Rom übertragenen päpstlichen Segen; eine Gruppe bedeutender protestantischer Geistlicher, die sich jeder bei geschlossenen Augen mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel kniffen, als wollten sie einen unsichtbaren Zwicker zurechtrücken, ließen sich jeweils auf einem Knie auf der Bügelfalte eines auf dem Rasen ausgebreiteten frischen Taschentuchs nieder; der prominenteste und progressivste der amerikanischen Reformrabbis stimmte nahezu unhörbar, wie für sich, vor einem hübschen kleinen Mikrofon Eli, Eli an. Die zwanzig besten Scharfschützen der alliierten Armeen des Zweiten Weltkriegs präsentierten ihre Gewehre, und viele Mitglieder der Kapellen vieler Nationen führten ihre Blättchen und Mundstücke an die Lippen oder testeten ihre Trommelfelle und ­Ravanahatthas, die Köpfe zu den flinken Fingerspitzen gesenkt.


Der Höhepunkt war in der Tat schlicht. Ein bezauberndes in ­weißen Organdy gekleidetes Mädchen, das kürzlich zur ge­sündesten Dreijährigen der Vereinigten Staaten gekürt worden war ­(nachdem man gleich nach der Kündigung des Leih- und Pacht­gesetzes und Mr. Herbert Lehmans dreihunderteinundsiebzigster Eingabe beim Kongress bezüglich dringlicher UNNRA-Forderungen rasch und verbindlich zu der Übereinkunft ge­kommen war, dass keine andere Nation an dem Wettbewerb teilnehmen dürfe), trippelte nach einem sanften Schubs seiner Mutter, eines ehemaligen Filmstars, und einem geflüsterten »Jetzt, Lidice« an dem schwefelbleichen Rasen entlang auf den großen Bogen zu, in der rechten Hand eine Stange Anzündwachs, entzündet an einer Flamme, die ihrerseits an dem ewigen Licht auf dem Grab des Unbekannten Soldaten in Paris entzündet worden war. In diesem Moment erheben sich aus einem kleinen Loch genau in der Mitte des Pflasters unter dem Bogen (aus einer mit einer ­Platin-Nachbildung von Martha Washingtons Ehering eingefassten Öffnung) und zugleich aus der Mitte eines Plexiglas-­Medaillons mit innerhalb eines Tierkreises eingeprägten Richtungspfeilen und Entfernungsangaben in Meilen (Luftlinie) zu jeder Hauptstadt jeder zivilisierten Nation, tastend ein paar Zentimeter eines glänzenden weißen Dochts, ganz so wie der frühe Wurm in einem besonders poetischen Disney-­Cartoon in der Luft schnuppert. Als das Kind sich näherte, dessen Blase unter dem Gewicht des ihm übertragenen Privilegs ein wenig nachgab, konnten die Kardinäle und die ihnen ministrierenden Monsignori und päpstlichen Ordensträger ein Seitwärts­gleiten ihrer Augen nicht ganz verhindern; unter den protestantischen Geistlichen waren einige, die das Geschehen unter dem Strahlenkranz ihrer Wimpern verfolgten; die Stimmbänder des Rabbis verhärteten sich, was ein leichtes Räuspern unumgänglich machte, währenddessen er vergaß, sich vom Mikro­fon abzuwenden; selbst ein paar von den außerordentlich ­disziplinierten Waffenträgern (und -trägerinnen) lösten den Blick von den Mündungen ihrer Gewehre; einer der Musiker ließ zu, dass sein Instrument, eine Tuba, ein ersticktes Stöhnen von sich gab; man konnte hören, wie ein Junge am Rand der riesigen Menge Eiskrem anpries, die an diesem kühlen Tag nicht besonders gut ging; eine Frau fiel mit einem Ächzen in Ohnmacht und stürzte über das Absperrseil; und ein über und über mit Leistungsabzeichen dekorierter Eagle Scout flüsterte verzweifelt die in letzter Minute erfolgte Änderung seiner Direktiven (erst nachträglich und mit schmerzlicher und höchster Dringlichkeit beschlossen) vor sich hin, Nein! Nein! Nein, kein Day is Done!, Kein Day is Done!, und hob sein Signalhorn an die bartlosen, wenn auch frisch und elektrisch rasierten Lippen.


Und jetzt beugte sich das Kind in einer der einfacheren Ballett­grundpositionen vor, streckte sein heiliges Anzündwachs aus und berührte mit der Flamme den hellen Docht; und in dem köstlichen Schweigen setzte ein selbst für den Jungen in der Ferne, der mitten in der ersten Silbe von Eiskrem verstummte, vernehmbares schwaches, suchendes, raschelndes Geräusch ein, nicht unähnlich dem einer Schlange, die sich im trockenen Laub zusammenrollt. Und während jetzt die Musiker ihre Instrumente ansetzten und die Scharfschützen ihre Gewehre anlegten; und während die Kardinäle sich je nachdem ein wenig langsamer oder schneller auf ihren Kniefall und das Klingeln ihrer Glöckchen zum genau richtigen Moment zubewegten; und während in New York der Maestro wie mit einem Spinnenfaden von der Spitze seines Dirigentenstabs hundertsiebzehn Instrumente und neunhundertdreiundvierzig Augenpaare auf sich geheftet hielt; und während die in Ohnmacht gefallene Frau sanft und rasch ans Ende der Menge bugsiert wurde; und während die Stimme von Amerikas beliebtestem Radiosprecher ihre Beschreibung in solch gekonnter Unaufdringlichkeit fortsetzte, dass sie zwar von jedem ihrer Millionen unsichtbarer Zuhörer zu verstehen war, aber keines seiner Worte auch nur von einem einzigen anwesenden Zuschauer gehört wurde, obwohl alle ihre Ohren spitzten, damit sie wussten, was passierte, bevor sie es in den Abend­ausgaben lesen konnten, die schon jetzt von denen am Rand der Menge gekauft wurden; während all das geschah oder sich in spannungsgeladener Luft zu geschehen anschickte, blies, so gut es ihm möglich war, der unglückliche auserwählte Scout, der in unzähligen Proben eine derart herzergreifende Darbietung von Day is Done vervollkommnet hatte, dass sie als Schallplatte mit gesummter Begleitung von Bing Crosby, den Andrew Sisters, den Ink Spots und dem Westminster Choir bereits mehr als eine Million Mal verkauft worden war, das Reveille, das zu spielen und proben er seit dem Ende des letzten Sommerlagers keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, und das er, wie viele Leute übereinstimmend sagten, unter den gegebenen Umständen recht passabel hinbekam. Als der letzte Ton verklang, feuerten die zwanzig Scharfschützen den ersten ihrer einundzwanzig Salutschüsse ab, ließen die Vorhängeschlösser aus vergoldetem Silber an einer Batterie von Käfigen aufschnappen, aus denen ein leuchtender Schwarm von Brieftauben entwich, durch die mit Draht befestigten nachgeahmten Olivenzweige ein wenig beim Atmen behindert und mit angemessenen Botschaften ausgestattet, um sich nach einem kurzen, hell gegen die Wolken leuchtenden Kreisen eilig auf den Weg in die verschiedenen und allumfassenden Erdteile zu machen; die Kardinäle fielen auf die Knie; ihre Glöckchen klingelten; der Rabbi warf seinen Mikrofonständer um und strich sich die Haare glatt; die in Ohnmacht gefallene Frau schlug die Augen auf, blickte hoch zu den Kinnspitzen der mitfühlenden Helfer und erlitt mit einem verzweifelten Stöhnen eine Fehl­geburt; die Geistlichen erhoben sich von ihren Knien, falteten sorgfältig ihre Taschentücher zusammen und steckten sie ein; der junge Eisverkäufer fuhr fort, seine Eiskrem anzupreisen, und in perfekter Synchronität stimmten die Militärkapellen von sechsund­vierzig Nationen und das National Broadcasting Symphony Orchestra und der Westminster Choir ihre jeweiligen Nationalhymnen an beziehungsweise setzten die Sinfonie fort, alle von Morton Gould um des Wohlklangs willen leicht abgewandelt, aber für das ungeübte Ohr eigentlich noch zu erkennen; und das schimmernde Tuch, dessen Reißleinen auf ein Signal von James Bryant Conant von dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, Charles de Gaulle, einem zögerlichen ehemaligen Beamten der Chinese Purchasing Commission und Unterstaatssekretären aus den Botschaften der übrigen beiden der Big Five gezogen wurden, glitt in der Märzluft träge vom Scheitelpunkt des Bogens und enthüllte in einfachem Englisch die Worte:


Das ist es


Die Menge seufzte ehrfürchtig; dann brandete Applaus auf wie das Blätterrauschen vor einem Regenguss: denn dieses Geheimnis war erfolgreich bewahrt worden und nur sehr wenige von denen am Rande hatten es geschafft, sich ein Extrablatt zu kaufen, bevor das Tuch zu Boden sank.


Unter der Inschrift wuchs die Ewige Lunte kontinuierlich auf einen Zoll über das Pflaster und brannte zugleich um einen Zoll pro Sekunde ab. Damit das Geräusch der brennenden Lunte derart verstärkt werden konnte, dass jeder, der vierundzwanzig Stunden aufmerksam Wache hielt, es wahrnahm, wurde das Abbrennen ständig chemisch gesteuert; nach genau hundert Jahren, so hatte man errechnet, würde dieses durchdringende Flüstern, das immer schärfer, wenn auch nicht deutlich lauter wurde, an dem von seinem Ursprung am weitesten entfernten Punkt auf der Erde vernehmbar sein. Einige blieben jetzt stehen und hielten Wache; andere, viele, lauschten eine halbe Stunde, sogar eine Stunde, dann verloren sie die Geduld; bei den ersten Neonlichtern zerstreute sich die Menge. Wenige blieben zurück, die in der Dämmerung das Einholen und Falten der Flaggen beobachteten.


In den frühen Stadien der Denkmalsplanung war heftig darüber gestritten worden, ob die Lunte einen Zoll pro Stunde oder sogar pro Tag herunterbrennen sollte; aber letztlich kam man überein, dass ein Zoll pro Sekunde nicht nur flotter und passender sei, sondern dass dieser Verbrauch darüber hinaus auch gewisse heikle soziale und ökonomische Probleme spürbar lösen half oder wenigstens von einem Bewusstsein für sie zeugte. Jeden Tag würden etwa 7.200 Fuß abbrennen; jährlich also etwa 4.897,6 Meilen, die sich auf etwa 322,17 Ballen Baumwolle beliefen. Man wollte die feinste langfasrige ägyptische Baumwolle verwenden, produziert von Mitgliedern eines landwirtschaftlichen Förderprojekts in einem der reichsten Elendsgebiete im Delta. Die Ballen sollten abwechselnd von einer weißen und einer Negerfamilie geliefert, zum Selbstkostenpreis erworben und die Zahlung mit den Zinsen des Förderdarlehens verrechnet werden. Der Kauf der Chemikalien zum Imprägnieren der Lunte, gerade einmal ein paar Tonnen jener Substanzen, die seit kurzem urplötzlich nicht mehr für militärische Zwecke gebraucht wurden, war selbstverständlich rein symbolischer Art, aber dadurch konnten sich verschiedene klamm gewordene Hersteller veralteter Munition der anhaltenden Sympathie der Regierung und der Sorge um ihr Wohlergehen sicher sein. Darüber hinaus verschaffte die Herstellung der Lunte einer Reihe von Leuten, die sonst erwerbsunfähig gewesen wären, eine einträgliche und ehrenvolle Arbeit und verlieh auf diese Weise dem ganzen Projekt nicht nur symbolische Würde, sondern auch menschliche Wärme. Die Luntenherstellung erfolgte direkt vor Ort in einer kleinen, klimatisierten und gut ausgeleuchteten Werkstatt unter dem Bogen, die von Norman Bel Geddes so überaus findig ersonnen worden war, dass die Arbeit, wenn gewünscht, auch von einem gefederten Rollstuhl oder, wie in einigen Fällen, von einem Krankenhausbett aus geleistet werden konnte. Die Betreffenden, in einmütiger Übereinkunft zwischen den Verantwortlichen des Denkmals zu Wächtern der Flamme ernannt, arbeiteten ohne Pause und wurden bei Schichtwechsel von weiblichen Ärzten, deren Dienste wegen der Beendigung der Feindseligkeiten überflüssig geworden waren, durch stille Ziegel- und Plastikröhren hinein- und hinausgeschoben. Selbst während des Schlafs konnten sie von Besuchern aus anderen Röhren durch dicke Wände aus verspiegeltem Glas beobachtet werden. Die Eintrittspreise für die Besucher würden eindeutig die Bau- und Betriebskosten des Projekts übersteigen, obwohl Veteranen und Kindersoldaten die nächsten zwei Jahre nur den halben Preis zahlen sollten; darüber hinausgehende Einnahmen sollten für die Unterstützung all jener verwendet werden, die es versäumten, sich bis 1950 ihre Kriegs-und-Sieges-­Anleihen zurückzahlen zu lassen.


Die eine der beiden Zwölfstundenschichten (die Arbeit war ja nicht schwer) setzte sich zusammen aus behinderten Trägern des Distinguished Service Cross, der Congressional Medal of Honor und des Navy Cross, die nicht ihren Gemeinden zur Last fallen oder in Veteranenheimen dahinsiechen wollten und sich des großen therapeutischen Werts ehrlicher Arbeit bewusst waren. Man forderte von ihnen nur, dass sie während der Schicht ihre Uniformen und Abzeichen trugen und als Mahnung und Ansporn für die Jugend ihre Wunden, Narben oder Arm- und Beinstümpfe zeigten. Ihre Bezahlung entsprechend Rang und Grad der Verletzungen erfolgte in Form einer Pension. Die andere Schicht bestand aus entbehrlich gewordenen, überlebenden Kollaborateuren bei den Experimenten von Hiroshima und Nagasaki, denen vergeben worden war und die, abgesehen von einigen bedauerlichen, den Verlauf ihrer Reise durch rückständigere Landesteile störenden Vorkommnissen, mit ausgesprochener Zuvorkommenheit behandelt wurden und sogar dem Außen- und dem Kriegsminister die Hand schütteln durften, welche sich über einen Dolmetscher lachend dafür entschuldigten, dass sie während der kleinen Zeremonie strahlungssichere Handschuhe und Masken trugen. Zunächst war in Erwägung gezogen worden, für diese Arbeit nur solche Japaner zu nehmen, die sich zum christlichen Glauben bekannten, aber dann beschloss man, um der religiösen Toleranz willen, großmütig darauf zu verzichten; im Gegenteil, man wusste von einigen Kollegen aus Nagasaki, die früher Christen gewesen waren, dass sie dem Christentum abgeschworen hatten, und es war ein offenes Geheimnis, dass zwei von ihnen sogar im Verborgenen den verbotenen Schintoismus praktizierten. Weil man annahm, dass diese hoffnungslosen Reaktionäre bei ihrer gegenwärtigen Beschäftigung, so fern der Heimat und gering an Zahl – die Effizienz der hervorragend ausgebildeten Projekt-Aufseher nicht zu erwähnen –, keinen größeren Schaden anrichten könnten, sah man auch darüber mit einem Lächeln hinweg (auch wenn man darauf achtete, dass es nicht der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde). Man verlangte von den Japanern nur, dass sie ihre eigentümlichen Verbrennungen, die bei Amerikanern so viel gutwillige Neugier hervorriefen, zur Schau stellten – was natürlich in mehreren Fällen der Schicklichkeit halber nur eingeschränkt möglich war. Diese Japaner erhielten den für Kriegsgefangene üblichen Lohn (die Gelder wurden abzüglich Kost und Logis in ihrem Namen vom Finanzministerium treuhänderisch verwaltet) und sollten gemäß der Genfer Konvention nicht schlechter oder besser oder anders als die Männer in unseren eigenen Armeen essen, weswegen sie gezwungen waren, je Mann und Tag eine K-Rationen-Dose zu konsumieren, zwei vierpfündige Porterhouse-Steaks, eine Schachtel Camel, acht ­Früchtewürfel zur ­Verdauungsförderung, zwei Packungen Puffreis, den Saft von zwölf Orangen, eine Büchse Frühstücksfleisch, eine Tasse Ovomaltine, ein Stärkungsmittel, eine Tube landesweit beworbener Zahnpasta und eine aufgeweichte oder verflüssigte Überseeausgabe von Time, Reader’s Digest und Neuem Testament, dazu sonntags Roastbeef, Apfelkuchen und Schmelzkäse und ergänzend traditionelle Feiertagsgerichte, inklusive dreimaligem Nachnehmen, Löffelabschlecken und geseufztem »Toll, Mom«; all das war oral, rektal oder intravenös zu verabreichen, wie es für den einzelnen Patienten am bequemsten war – eine Aufgabe, die vielen der kleinen Kerls so peinlich war und die die Besucher so überaus amüsant fanden, dass schon nach den ersten paar Tagen die Essenszeiten zu Verkehrsstaus führten.


Man kam überein, dass zu gegebener Zeit die Kinder der Invaliden auf deren Stellen nachrücken würden, so sich diese als zeugungs- und gebärfähig erweisen sollten, und dass den Kindern, so sich ihr Betragen bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr als untadelig erweisen sollte, das Privileg der amerikanischen Staatsbürgerschaft und der Briefwahl gewährt werden sollte. Die männlichen Kinder der zeugungsfähigen Veteranen sollte die Wahlmöglichkeit zwischen der lebenslangen Garantie einer einträglichen Beschäftigung und einem Stipendium für die Peddie School in New Jersey gewährt werden. Für den Fall – der einigen durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen schien –, dass die dadurch entstehende Fluktuation den Personalbestand zu rasch verkleinern würde, traf man bereits Vorkehrungen, die Lücken in den japanischen und amerikanischen Reihen entweder mit zu einer anerkannten christlichen Glaubensrichtung Bekehrten oder mit Theologiestudenten zu füllen, welchen für ihre geleisteten Dienste bei halbierten Studiengebühren pro Jahr ein Hauptseminarschein gutgeschrieben würde.


Pünktlich um null Uhr wurden die Arbeiter von einem ge­panzerten Lastwagen mit Rohmaterial beliefert. Bis zu den Feier­lichkeiten hatten sie eine derart dicke Luntenspule hergestellt, dass man beschloss, ihnen an diesem Tag freizugeben. Am Vormittag fand auf dem hinteren Rasen des Weißen Hauses ein Picknick statt mit Sackhüpfen und einem Baseballspiel (das amüsanterweise die Japaner gewannen). Nachmittags transportierte man sie zu ausgewiesenen Bereichen gleich bei der Absperrung (wobei die Japaner von den Amerikanern isoliert wurden), wo sie der großen Einweihung beiwohnen konnten.


Ein beklagenswerter Zwischenfall störte diesen sonst so perfekten Tag. Einer der älteren Wissenschaftler, die ihr Genie der Vervollkommnung der Bombe gewidmet hatten – er soll, zumindest an dieser Stelle, ungenannt bleiben –, war kurze Zeit nach der japanischen Kapitulation seinen Kollegen nicht mehr ganz richtig im Kopf vorgekommen. Man wusste, dass er die Messe be­suchte, anfangs heimlich, dann mehr oder weniger offen; später verbrachte er einige Schweigeabende bei den Quäkern; noch später machte er einen Dichter in seinem Bekanntenkreis ausfindig, bei dem er sich, wie in Erfahrung gebracht wurde, nach der Post­adresse von Mahatma Gandhi erkundigte, ob ein Brief willkommen sei und beantwortet würde und wie weit ungefähr nach Osten man reisen könne, wenn möglich zu Fuß oder auf Knien (»Vielleicht bis nach Lhasa?«, fragte er), und zwar, wie er es nannte, als »Buße«. Der Dichter lachte seinem eigenen Bericht über dieses eigentümliche Gespräch zufolge bloß schallend und antwortete mit einem nebulösen Spruch – den er höchst belustigt wiederholte, als ihn Freunde des Wissenschaftlers dazu be­fragten – des Wortlauts, »dass das Kind schon in den Brunnen gefallen« sei. Nicht lange danach – Anfang Oktober – entstanden die ersten Pläne für den Bogen. Kaum hatte der Wissenschaftler von der Idee des Personals unter der Erde erfahren, ruhte er nicht eher beziehungsweise ließ er keinem seiner Kollegen oder deren Bekannten in der Behörde Ruhe, bis man ihm die Stelle eines Wächters zusicherte. Dies wurde nur widerstrebend gewährt, umso mehr, weil er darauf bestand, die japanische Schicht zu übernehmen, und, was allgemein noch größere Ver­legenheit hervorrief, drohte, dass er die den Japanern verabreichte ­ausgewogene Ernährung verweigern würde und stattdessen ­lieber jeden Tag gerade so viel gekochten Reis essen wollte, wie in eine hohle Hand passte. In Anbetracht seiner großen Verdienste um die Menschheit und aus einem ge­wissen Mitleid oder vielleicht auch aus einem übersteigerten Gerechtigkeitsempfinden heraus, die Gemeinschaft als Ganze, die so sehr von ihm profitiert hatte, trage eine egal wie geringfügige und mittelbare Verantwortung für seine Geistesverwirrung oder solle sich wenigstens darum sorgen, gelangte man nach der ausführlichen Konsultation hervorragender Psychologen zu der Ansicht, dass man ihm seinen Willen lassen solle. Leider zeigte sich schließlich, dass selbst die beste Absicht der Welt seitens der offiziell und medizinisch Verantwortlichen nicht ausreichte.


Im Laufe der sogenannten »Bogen-Rennen«, die viele Leser in den Wochenschauen wohl schon gesehen haben, wurde schmerzhaft deutlich, dass man seinem Wunsch unmöglich weiter nachgeben durfte. Nicht etwa, dass die Japaner sich ungebührlich be­nommen hätten; sie schenkten dem alten Mann eigentlich keinerlei Beachtung. Es lag vielmehr am Verhalten des Physikers selbst und an der verstörenden Wirkung, die es auf die Besucher der »Bogen-Rennen« hatte. Obwohl man ihn durch die dicken Scheiben nicht hören konnte, war es für den aufmerksameren Zuschauer sehr wohl klar, dass er während des Arbeitens redete, und zwar einen schrecklichen Mischmasch aus Selbstbezichtigungen und Geh-Beh-Ten. Selbst für jene, die mit einer solchen rückschrittlichen Gesinnung nur ungenügend vertraut waren und sie daher nicht richtig deuten konnten (viele dachten nämlich, dass er es, wie sie sagten, »den Japsen mächtig gab«), war es doch äußerst beschämend, einen Weißen bei der Arbeit unter Menschen anderer Hautfarbe zu sehen; und darüber hinaus zu beobachten, wie er, sooft es die für seine Arbeit nötigen wenigen Handgriffe zuließen, an seinem dünnen Haar riss, sich mit geballten Fäusten auf das geschundene Gesicht schlug und es mit seinen Nägeln zerkratzte, und dabei die ganze Zeit mitzuverfolgen, wie aus seinen aufgebissenen Lippen das Blut auf den gestärkten Laborkittel tropfte, wodurch dieser ständig verschmutzt war, mochte er auch immer häufiger ausgewechselt werden; und wie sein traktiertes Gesicht von unbeherrscht (und vielleicht unbeherrschbar) strömenden Tränen benetzt wurde. Einige fingen an, mit Münzen gegen das Glas zu klopfen, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und ihn dann je nach Gepflogenheit durch Gesten oder Grimassen zu verhöhnen oder zu versuchen, ihm Mut und Selbstachtung wiederzugeben, indem sie ihn aufmunternd anblickten oder das Victory-Zeichen machten und mit einem Lächeln ihre Sympathie bekundeten oder die Hände verschränkten und schüttelten und dabei grinsten, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie ihn, wie bedauernswert seine gegenwärtige Misere auch sei, in Anbetracht seiner früheren Leistungen weiterhin schätzten und ehrten und unterstützten. Ein solches Verhalten schien jedoch die Japaner vor den Kopf zu stoßen und wurde von den Aufsehern unterbunden. Andere Zuschauer gingen von Abscheu gepackt rasch weiter; aber selbst das minderte in gewisser Weise die beabsichtigte würdevolle und schickliche Atmosphäre und den Reiz der Ausstellung. Wieder andere, und nicht zu wenige, blockierten den Besuchertunnel, als sie dem Beispiel eines jungen Soldaten folgten, der am späten Nachmittag vor der großen Einweihung praktisch ohne Vorwarnung auf die Knie fiel und in Tränen ausbrach. Selbstverständlich weinten nur wenige der Nachahmer; die meisten wussten im Grunde nicht, was vor sich ging, besonders diejenigen am Rand der rasch ­zusammenlaufenden Menge, und knieten sich nur hin, weil sie sahen, dass die vor ihnen sich hinknieten. Gleich nach dieser Störung mit größter Sorgfalt durchgeführte Befragungen durch namhafte Geistliche und Psychiater mit Unterstützung von ­Gallup-Experten ergaben mit Gewissheit, dass der Soldat trotz seiner vielen Orden und Ehrenzeichen ein Psychoneurotiker war, dass so gut wie keiner den Anlass für seinen Ausbruch verstanden hatte und dass überhaupt gar nichts zu befürchten war, ungeachtet des Beharrens auf einem sogenannten »religiösen Erwachen« in gewissen Erweckungspredigerkreisen. Aber das Knien an sich war nichtsdestoweniger ungewöhnlich und völlig unangemessen; das galt umso mehr, als auf jeden Besucher, der aus reiner Höflichkeit den Erwartungen entsprechen wollte und auf die Knie sank, zwei weitere kamen (2,29 nach Gallup-Zählung), die dieses Verhalten mit irgendeiner Form von vulgärer Überspanntheit verwechselten und aus natürlicher Ungeduld und Geringschätzung und nicht zu geringem Ärger zwischen, durch und über die dicht an dicht Knienden kletterten, jedes Fortkommen unmöglich machten und schließlich eine leichte Panik verursachten, da eine hysterische Frau am äußersten Rand des Tumults schrie, dass die Japaner ausgebrochen seien, woraufhin andere in das Geschrei einfielen und die direkt vor dem Exponat Stehenden das Sicherheitsglas eindrückten und zerbrachen, um ihre Frauen zu schützen. (Die Japaner, das muss an dieser Stelle gesagt werden, waren an der Sache vollkommen unschuldig.) In diesem Durcheinander trugen viele Beteiligten, Kniende wie Nichtkniende, Verteidiger wie Verteidigte, kleinere Quetschungen davon und verklagten die Bogen-Behörde auf Schadenersatz für ihre Nerven, Kleider und Arbeitskraft. Hieran erkennt man die verhängnisvollen Folgen, die der ungezügelte Individualismus eines Einzelnen haben kann.


Daher wurde dem Physiker am Ende dieser Schicht um Mitternacht mit größter Freundlichkeit erklärt, dass man seine Dienste, so sehr sie auch geschätzt würden, nicht mehr benötige und dass er wählen könne, in welchem Sanatorium des Landes er einen lebenslangen kostenlosen Aufenthalt einschließlich Behandlung verbringen wolle. Sogleich hörte er auf zu klagen und fragte in scheinbar völliger Geistesklarheit, ob ihm vor seiner Pensionierung nicht wenigstens das Privileg zuerkannt werden könne, den Schalter in der unterirdischen Werkstatt umzulegen und damit die Lunte auf ihre ewige Reise zu schicken. Der Gedanke, dass ein Kollege um seinen freien Tag gebracht würde oder den Höhepunkt des Ereignisses nicht vom bestmöglichen Aussichtspunkt mitverfolgen könne, schmerze ihn. Der Mann war derart weltfremd, dass ihm gar nicht in den Sinn kam, dass eben das ein entscheidender Moment der Feierlichkeiten war; tatsächlich war auf der vordersten Bühne ein Schalter angebracht worden (er war mit dem Hope-Diamanten besetzt, den man zu diesem Anlass ausgeliehen und hoch versichert hatte), und er sollte – da sowohl Dr. Albert Einstein als auch Dr. Lise Meitner diese Ehre abgelehnt hatten – von Generalmajor Leslie Groves umgelegt werden. Es wurde beschlossen, den armen alten Mann nicht in Verlegenheit zu bringen. Schnell wurde telefonisch der großmütige Verzicht des Generals eingeholt; dann erklärte man dem Wissenschaftler, dass alle erfreut wären und sich geehrt fühlen würden, wenn er sich bereit erklärte, von einer möglichst hervorgehobenen und ehrenvollen Position aus »die Kugel ins Rollen zu bringen«, wie man sagte. Höflich, sogar dankbar erwiderte er, dass er eigentlich 
lieber unter der Erde wäre. Nach reiflicher Überlegung be­fand man, dass nichts dagegen spreche, ihm diesen Wunsch zu ­erfüllen – eine Entscheidung, die, was für niemanden vorherzusehen war, sich als tragischer Fehler erweisen sollte.


Nur wenige Minuten nach der Feier wurde er neben der großen Spule entdeckt, von eigener Hand niedergestreckt (durch Blausäure); man kam zu dem Schluss, dass er das Gift in dem Moment geschluckt haben musste, als er den Schalter umgelegt hatte. An seinen makellosen Laborkittel war eine kurze Notiz geheftet, in schwungvoller, klarer Handschrift verfasst.


Aus Achtung vor dem Verstorbenen und seinen Angehörigen kam man sogleich und einmütig zu der Übereinkunft, dieses einmalige Dokument nicht zu veröffentlichen (auch wenn qualifizierte Forscher Einsicht nehmen können), da sein Inhalt Menschen mit klarem Verstand nur verwirren und brüskieren könne und die bemitleidenswerte Geistesgestörtheit eines ehemaligen Genies eindeutig beweisen würde. Es erscheint jedoch nicht ehrenrührig, wenn man grob zusammenfasst, dass er in unstrittiger Aufrichtigkeit seinen Freitod als seine Pflicht erachtete – sogar als eine Art religiöses oder ethisches »Opfer«, durch das er den Triumphbogen mit einer neuen und ganz besonderen Bedeutung aufzuladen und der Menschheit erneut (wie er dachte) zu Diensten zu sein hoffte, wenn sich diese Bedeutung langsam in den Köpfen von immer mehr Menschen festsetzte.


Selbst im Tod machte dieser unglückliche, aber brillante Mann noch einmal Geschichte. Psychoanalytiker sind bereits dabei, in die verborgenen Schichten dieses schon jetzt berühmten Falls vorzudringen; die führenden Philosophen des Landes haben eilig mit der Planung eines Symposions zum Thema »Das erneute neuerliche Versagen der Nerven« begonnen, und Geistliche aller Konfessionen, vereint in einer womöglich noch nie dagewesenen Einhelligkeit, sind entschlossen, am kommenden Sonntag (und nötigenfalls auch dem darauf folgenden) in ihren Predigten diesen tragischen Vorfall keinesfalls teilnahmslos, doch ernst und möglichst wenig abfällig all jenen in ihrer geistigen Obhut Stehenden zur mahnenden Anschauung zu bringen, die zu einer ganz und gar falschen und übertriebenen Skrupelhaftigkeit neigen, sei es aus Stolz oder aus ungebührlichem Drang nach Aufmerksamkeit. »Manches sollte man besser Jesus Christus überlassen«, wird der Tenor ihrer Ausführungen sein; die Bibelstelle wird lauten: So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!


Der Leichnam wird mit militärischen Ehren in dem Gebiet in New Mexico, wo der hochtalentierte Wissenschaftler und seine Kollegen das erste Mal das Licht des neuen Zeitalters erblickten, bestattet werden. Und vielleicht ist die Hoffnung nicht ­übertrieben, dass man sich seiner, durchaus ein wenig wehmütig, wenn auch anders, als er wollte, in dem Geräusch der Lunte erinnern wird, während es sich in der ganzen Welt ausbreitet. Denn mögen seine letzten ganz und gar bedauerlichen Tage auch fehlgeleitet gewesen sein – in der Tat eine traurige Mahnung an all jene, die den Geboten der Vernunft nicht gehorchen und den menschlichen Fortschritt nur unwillig anerkennen –, so war er vielleicht nichtsdestoweniger unsere letzte Verbindung zu einer nicht allzu weit zurückliegenden Vergangenheit, in der solche Begriffe wie »Buße«, »Schuld« und »Verantwortung des Einzelnen« noch Be­deutung hatten. Und in gewisser Weise war sein Geschenk an die Menschheit vielleicht größer als das seiner robusteren Kollegen. Denn obwohl »Opfer« ein Wort ist, das nie ohne Entschuldigung benutzt werden sollte, hätte man Schwierigkeiten damit, zu bestimmen, was sie, wenn überhaupt, »opferten« in dem, was sie gaben; er aber gab seine geistige Gesundheit hin.


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James Agee

James Agee

war Dichter, Journalist, Drehbuchautor und Schriftsteller. Er galt als einer der einflussreichsten Filmkritiker seiner Zeit und schrieb neben den Drehbüchern zu »The African Queen« und »The Night of the Hunter« u.a. den mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman »A Death in the Family« (»Ein Todesfall in der Familie«, 2009). In Zusammenarbeit mit dem Fotografen Walker Evans entstand der Band »Let Us Now Praise Famous Men« (»Preisen will ich die großen Männer«), ausgehend von einem Auftrag der Farm Security Administration, über die Lebensbedingungen von Farmpächtern im Süden der USA zu berichten.

Weitere Texte von James Agee bei DIAPHANES
James Agee: Da mir nun bewusst wird

James Agee

Da mir nun bewusst wird
Prosa, Skripte, Projekte

Übersetzt von Sven Koch und Andrea Stumpf

Gebunden, 240 Seiten

»Keine Zeit verschwenden für Geschichte, Figurenentwicklung etc.; man ist von Anfang an mittendrin: im Leben selbst statt in seiner Beschreibung.« Mit hemmungsloser Wucht hat James Agee sich in die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts eingeschrieben. Durch seine Kompromisslosigkeit riskierte er immer wieder, nicht veröffentlicht zu werden, wie etwa im Falle von »Brooklyn ist« – mittlerweile ein Klassiker der New-York-Literatur, der in diesem Band ebenso enthalten ist wie verschiedene Erzählungen, Prosaskizzen, Entwürfe.

Nichts Geringeres als einen »Angriff auf das Allgemeine durch den Einzelfall« wollte Agee mit seiner Literatur führen: einer Literatur ohne Rückendeckung, zwischen überscharfem Tatsachenbericht, entblößender Parodie und klassischer »short story«, die sich voller Emphase selbst aufs Spiel setzt und in Filmskizzen und Plänen für Bücher ganz anderer Art neue Wirklichkeiten sucht. Ein Schlüsseldokument ist der ideensprühende Stipendiumsantrag »Projekte; Oktober 1937«: ein noch im 21. Jahrhundert Staunen erweckendes Porträt des Schriftstellers als medienkünstlerischer Avantgardist und eine wahre Fundgrube an Ideen, die man sich sofort jede einzeln ausgeführt wünscht.