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Vinzenz Hediger: Der Künstler als Kritiker
Der Künstler als Kritiker
(S. 29 – 44)

Was heißt es, wenn das Wissensregime der Kunst von einem neuen Medium Besitz ergreift?

Vinzenz Hediger

Der Künstler als Kritiker

PDF, 16 Seiten

Die vom Tagesjournalismus her geprägte Vorstellung von der Kritik als Instanz der Bewertung und Vergleichung von Kunst zuhanden eines Publikums schränkt das in der Interpretation von Kunst liegende Potenzial unnötig ein. Eine andere Vorstellung, die Kritik als Vervollständigung des Werks begreift und sich den Eigenheiten der jeweiligen Kunst in dem Maße öffnet, wie sie sich den Ansprüchen von Wissenschaft verschließt, ist seit der Frühromantik vorgeprägt. Sie wurde in für die Gegenwart relevanter Weise u.a. von Peter Szondi, Maurice Blanchot und Jean Starobinski im Sinne eines »philologischen Wissens« vertiefend reflektiert. Ihre Aspekte lassen sich im vergleichenden Blick auf das ganze Spektrum der Künste und, innerhalb der Künste, mit Blick auf den Werkbegriff und Praxen einer »künstlerischen Kritik« fruchtbar machen.

»Manche Bücher bedürfen keiner Rezension, nur einer 
Ankündigung. Sie enthalten schon die Rezension mit.« 

Novalis


»Wir sind die ersten Filmemacher, die wissen, dass Griffith gelebt hat«,1 sagte Jean-Luc Godard in einem Interview aus dem Jahr 1962. Das klingt, wie manches, was Godard sagt, auf Anhieb überspitzt, ja anmaßend, und trifft doch präzise einen Sachverhalt. Die Regisseure der Nouvelle vague, so behauptet Godard, waren die ersten, die sich als Erben einer Geschichte ihrer Kunst betrachteten und ihr eigenes Kino als die Fortschreibung dieser Geschichte verstanden. Man könnte auch sagen: Sie waren die ersten, die ihr Geschichts­bewusstsein zur Schau trugen und ihre Kunst als Medium der Reflexion auch und gerade der Geschichte dieser Kunst verstanden. Als Eisenstein ganz am Ende seines Lebens eine Skizze für eine »Allgemeine Geschichte des Kinos« formulierte, entwarf er das, was man im neueren Jargon der Medienwissenschaft als eine »Medienarchäologie« des Kinos bezeichnen würde: Das Kino bündelt und vollendet die älteren Künste; als Kunstform eigenen Rechts aber ist das Kino neu und ohne Präzedenz.2 Die Regisseure der Nouvelle vague hingegen schreiben Filmgeschichte im Modus der Paläontologie: Sie fragen nach ihren Vorfahren und rekonstruieren ihre Abstammung von den Urmenschen des Kinos. »Der Dinosaurier und der Säugling« lautet nicht von ungefähr der Titel eines Interviews, das Godard 1967 mit Fritz Lang führte und das von André S. Labarthe fürs französische Fernsehen aufgezeichnet wurde. 


Mit Stanley Cavell könnte man auch sagen, dass das Kino erst in diesem Moment wirklich zur Kunst wird: Nicht schon in dem Moment, in dem es im Sinne von (und mit) Eisenstein die anderen Künste vollendet, sondern in dem Moment, in dem es seine ganz eigene Geschichte erhält und diese zu be- und verarbeiten beginnt. Die Frage ist nicht, ob das Kino eine Kunst sein kann, schreibt Cavell in seinem Buch »The World Viewed« von 1974, die Frage ist vielmehr, wie es ihm so lange erspart bleiben konnte, eine Kunst zu werden. »Kunst« in diesem Sinne setzt voraus, dass es eine Geschichte der Kunst und ein historisches Bewusstsein als »Medium« für ihre Entwicklung gibt. Nur in Absetzung von (und somit: Bezugnahme zu) dem, was früher schon der Fall war, ist die Herstellung von Neuem möglich. 


Die Künstlerin oder der Künstler muss zunächst einmal Kunsthistorikerin oder Kunsthistoriker sein, oder genauer noch: Genealogin oder Genealoge ihrer oder seiner selbst. Das klassische Hollywood-Kino – und vor allem der Tonfilm aus der Zeit vor 1960 – kam, so Cavell, noch ganz ohne dieses historische Selbstbewusstsein aus.3 Zwar behauptet die klassische Kino-Werbung stets, dass jeder neue Film alles bislang Dagewesene übertrifft. Dass ein Regisseur sich mit originellen Einfällen von seinen Vorläufern absetzt und mit einer eigenen Handschrift hervortut, ist nicht Gegenstand dieser Rhetorik des Neuen. 


Dass hingegen Godard zu den ersten Künstlern des Films zählt, billigt ihm auch Cavell zu: Er macht ihn und die Nouvelle vague geradezu dafür haftbar, dass der Film seinen Status als Nicht-Kunst und (kunst-)geschichtslose Weltprojektion schließlich doch noch einbüßte und zum Medium der kunsthistorischen Reflexion wurde. 


Das Beispiel des Films erlaubt es uns, in situ und als ­Anthropologen des Zeitgenössischen zu studieren, was es bedeutet, wenn das moderne Wissensregime der Kunst von einem neuen Medium Besitz ergreift, oder wenn das neue Medium zum Reflexionsmedium wird. Das Beispiel des Films ist aber auch in besonderer Weise geeignet, als Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach dem Künstler-Kritiker zu dienen.4 Die Regisseure der Nouvelle vague, die ersten Kunsthistoriker-Künstler des Kinos, begannen bekanntlich fast ausnahmslos als Kritiker. Godard, Truffaut, Rohmer und später auch noch Léos Carax oder Olivier Assayas, oder auch Harun Farocki oder Hartmut Bitomsky schrieben für Magazine wie Cahiers du cinéma oder Filmkritik, bevor sie Regisseure wurden (Godard schnitt auch noch Trailer und arbeitete als Presseagent für die Twentieth Century Fox; manche behaupten, dass er mit dem Trailer-Machen auch dann nicht aufhörte, als er seine eigenen Filme zu drehen begann). Die Film­geschichtsschreibung tendiert dazu, solche Kritiker-Phasen als eine Art Entwicklungskrankheit des modernen Regisseurs zu behandeln, oder bestenfalls als Verpuppungsphase, die damit enden muss, dass aus dem Kokon der Kritik ein prachtvoller Künstler entspringt.


Wenn nun aber der Künstler nicht Künstler sein kann, ohne für die Dauer seines Schaffens auch Historiker seines Kunst und Genealoge seiner selbst zu sein, dann stellt sich die Frage, ob der Künstler nicht auch zwangsläufig Kritiker sein muss, d.h. ob er überhaupt Künstler sein kann, ohne Kritiker zu sein. 


Die Annahme wirkt auf Anhieb kontraintuitiv. In der Moderne herrscht zwischen Künstler und Kritikern eine klare Arbeits­teilung. Der Künstler schafft Werke, der Kritiker beurteilt sie, idealerweise nach inhärenten und externen Kriterien, danach, ob sie ihren selbstgesetzten Ansprüchen genügen, und danach, ob sie es verdient haben, einen Platz in der Geschichte ihrer Kunst zugewiesen zu bekommen. Kritik ist mit einem Begriff, den Schleiermacher bei F.A. Wolf entlehnt, zunächst einmal immer »doktrinale Kritik«, nämlich einerseits »Gericht« und andererseits »Vergleichung«.5 Der Kritiker stellt, wie Schleiermacher es nennt, eine »doppelte Beziehung« des Werks auf seine Idee und auf andere Werke her. Er unterscheidet zuhanden des Publikums nach dieser doppelten Beziehung entweder die guten Werke von den schlechten; oder, wenn er nicht nach dem ästhetischen Wert, sondern nach der Gesinnung fragt, die guten von den bösen. Dabei betreibt der Kritiker immer zugleich auch praktische Warenkunde. Er klärt die Käufer darüber auf, wofür sie ihr Geld ausgeben werden, etwa in dem er als Filmkritiker Sterne vergibt (Gericht) und den Film in ein Œuvre oder ein Genre einbettet (Vergleichung). Die Kunstformen und Medien sind dabei austauschbar. In der Praxis des Kulturbetriebs ist das Problem der Medienspezifik immer schon gelöst: Die Spezifik der Medien begründet die Aufteilung des Kritikerberufs nach Sparten; zugleich aber wird sie aufgehoben in der Funktion einer Kritik, die medienübergreifend nach dem Prinzip der Schleiermacher’schen doppelten Beziehung verfährt.


Künstler und Kritiker haben im modernen Kunstbetrieb klar unterschiedene Rollen, aber sie stehen in einem komplexen und dynamischen Verhältnis zueinander. Nicht von ungefähr wird der Unterschied, auf dem ihre Arbeitsteilung beruht, oft mit sexuellen Begriffen aufgeladen: Der Künstler ist für die schöpferische Rede zuständig, der Kritiker bloß für die kritische, der Künstler zeugt, der Kritiker empfängt bloß, er ist zeugungsunfähig, muss aber, wie ­Walter Benjamin in seinen 13 Thesen zur Technik des Kritikers am Beispiel Literatur sagt, vernichten können.6 Andererseits ist die Beziehung von Künstler und Kritiker symbiotisch: Der Künstler ist auf den Kritiker angewiesen und der Kritiker auf den Künstler. Ihre Symbiose ist geknüpft an starke Gefühle, die der Erfahrung von Abhängigkeit und Macht entspringen. Der moderne Künstler muss sich vom Publikum unabhängig erklären und sucht schließlich doch die Gunst des ­Publikums und des Kritikers, der Kritiker hält seinen Abstand zu beiden (auch das eine doppelte Beziehung). Das Publikum muss sich »immer durch den Kritiker vertreten fühlen« und doch »stets Unrecht erhalten«, denn für Kritiker sind »seine Kollegen die höhere Instanz«, wie Benjamin schreibt, »nicht das Publikum.« So bilden Künstler, Kritiker und Publikum eine Struktur, in der ein komplexes Hin und Her von Zuneigung und Zurückweisung seinen Ort findet: Das Melodrama der modernen Kunstkritik, in welchem immer wieder alle drei Akteurtypen als über Gebühr Befangene, wenn nicht Gefangene erscheinen. 


Als weiteres Hindernis auf dem Weg zu einer möglichen Einheit von Kunst und Kritik enthält das System der modernen Arbeits­teilung im Feld der Kunst die Unterscheidung von Kulturbetrieb und Wissenschaft, eine Unterscheidung, die im Fall des Films mit der gebührenden Verspätung im Verhältnis von Filmkritik und Filmwissenschaft noch einmal reproduziert wurde. Für den Streit um gegenwärtige Geltung sind die Kritiker in den Medien zuständig, für Erkenntnisse mit langfristiger Gültigkeit die Wissenschaftler an den Universitäten. 


Diese institutionelle Unterscheidung von Kulturbetrieb und ­Universitäten bildet sich im 19. Jahrhundert im deutschen, aber auch im romanischen und im angelsächsischen Sprachraum heraus. Allerdings bewahrt sich im englischen und französischen Sprach­gebrauch ein Bewusstsein dafür, dass das Wissen, das in den verschiedenen Wissenschaften der Künste produziert wird, weder in dem aufgeht, was auf Deutsch Kritik genannt wird, noch den Charakter eines wissenschaftlichen Wissens im Sinne der Natur- oder auch nur schon der Sozialwissenschaften hat. »Die gelehrte Beschäftigung mit Werken der Literatur«, ruft Peter Szondi in seinem 1962 verfassten »Traktat über philologische Erkenntnis« in Erinnerung, »heißt auf englisch ›literary criticism‹, sie ist keine ›science‹.«7

Am Leitfaden dieses Bewusstseins eines Wissens, das sich von dem der übrigen Wissenschaften unterscheidet, kritisiert Szondi die szientistischen Anwandlungen einer Literaturwissenschaft seiner Zeit, die etwa Hölderlin mit induktiven Verfahren zu lesen und Interpretationen mit pseudo-statistischen Argumenten abzustützen versucht. Solche Tendenzen haben sich in der Literaturwissenschaft seither eher noch stärker ausgeprägt, wenn auch in reflektierter und methodisch besser abgestützter Weise.8 Gerade in eine historische Klassifikation von Wissensobjekten lässt sich aber das »andere Wissen«, das die Erkenntnis von Kunstwerken nach Szondi bedingt und ermöglicht, nicht auflösen. Das, worauf Szondi zielt und wofür er seinen englisch- und französischsprachigen Kollegen ein besonderes Sensorium zubilligt, ist ein Reflexionsraum zwischen der Kritik im Sinne des Kulturbetriebs und einem von szientistischen Aspirationen durchsetzten Universitätsbetrieb. 


Während Szondi festhält, dass das deutsche Wort »Kritik« für »diesen Bereich kaum mehr zu retten« sei, bezeichnet »critique« im Französischen gerade das Ganze des Feldes, das sich zwischen den Polen des Journalismus und der Universität aufspannt. Mehr als die Ahnung einer Einheit von Kunst und Kritik enthält aber auch dieser Begriff von Kritik nicht. »Aus der Universität und dem Journalismus besteht die ganze Realität der Kritik«, schreibt Maurice Blanchot in einem kurzen Vorwort zu seiner Doppelstudie zu Sade und Lautréamont unter dem Titel »Qu’en est-il de la critique?« (Wie verhält es sich mit der Kritik?), die 1963 erschien:


»Die Kritik ist ein Kompromiss zwischen diesen beiden Formen von Institutionen. Das Wissen für den täglichen Gebrauch, stets in Eile, neugierig und beiläufig, das gelehrte Wissen, dauerhaft, gewiss, begegnen sich und vermischen sich, so gut es geht.«9

Wo Szondi den Begriff des »criticism« als Ausdruck eines Bewusstseins liest, dass die Erkenntnis von Kunstwerken einen eigenständigen Wissenstypus bedingt und hervorbringt, bezeichnet »critique«, wenn wir Blanchot folgen, zunächst nur ein ungelöstes Mischverhältnis von zwei ihre Eigenlogik bewahrenden Wissensformen:


»Die Literatur bleibt wohl der Gegenstand der Kritik, aber in der Kritik wird die Literatur nicht manifest. Sie zählt nicht zu den Weisen, in denen die Literatur sich äußert, sondern die Universität und der Journalismus kommen in ihr zur Geltung […].«10

Die Frage nach der Kritik ist demgemäß zunächst die Frage nach einer Form der Kritik, in der die Literatur (oder breiter: die Kunst) sich selbst manifestiert. Am Beispiel von Hölderlin formuliert Szondi die Forderung, dass das hermetische Gedicht auch »in der Entschlüsselung als verschlüsseltes verstanden werden« muss: Das hermetische Gedicht »ist ein Schloss, das immer wieder zuschnappt, die Erläuterung darf es nicht aufbrechen wollen«.Kritik als Vollzug und Nachvollzug der Erkenntnis des Kunstwerks: Für Szondi gilt, dass das philologische Wissen »gerade um seines Gegenstandes willen nicht zum Wissen gerinnen« darf. »Auch für die Literaturwissenschaft trifft merkwürdigerweise zu,« schreibt Szondi, »was Wittgenstein zur Kennzeichnung der Philosophie gegenüber den Naturwissenschaften sagt«, nämlich dass sie keine Lehre, sondern eine Tätigkeit sei.11

Gegenstand dieser »Tätigkeit« ist ein »Werk«. In »La relation critique« entwirft Szondis Freund und Weggefährte Jean Starobinski eine Skizze möglicher Beziehungen zwischen Text und Interpret. Die Umwidmung des Artefakts, in diesem Falle des Textes, zum Werk, findet statt in dem Moment, in dem die »interpretierten Texte aufhören, Träger einer Autorität zu sein« und stattdessen »Gegenstände des Wissens und von Vorlieben werden, ganz ohne Rücksichtnahme auf Weihen, die sie zuvor empfangen hatten«.12 Historisch gesehen vollzieht sich dieser Übergang in einer Phase, die Reinhart Koselleck als »die Sattelzeit« an der Schwelle zum 19. Jahrhundert oder Foucault im Anschluss an Canguilhem als epistemischen Bruch und Heraufkunft der modernen Wissensordnung beschreiben. Jacques Rancière charakterisiert diesen Umbruch, indem er die Frage nach der Ästhetik in Canguilhems Rede von den Wissensordnungen einträgt, als Übergang von einem »repräsentativen« zu einem »ästhetischen Regime der Kunst«, also als einen Übergang von einer Ordnung, in 

der Kunst primär eine rhetorische Funktion hat und der Darstellung und Befestigung gesellschaftlicher Hierarchien und Machtverhältnisse dient, hin zu einer Ordnung, in der Kunst ihren Seinszweck in sich selbst findet.13 Während Starobinski sich mit seiner Analyse auf den literarischen Text beschränkt, bezieht Rancière auch die bildende Kunst mit ein. Ihre Diagnose lässt sich aber auch auf die Musik ausdehnen, wo die Idee des Werks, wie Lydia Goehr aufzeigt, um 1800 zum regulativen Konzept wird, das die Funktion hat, die Struktur musikalischer Praktiken festzulegen, zu stabiliseren und zu ordnen.14 Das Werkkonzept stiftet und reguliert die Tätigkeiten der Komposition, der Aufführung, der Rezeption, Analyse und Evaluation von Musik – mehr noch: das Konzept des Werks macht Musik überhaupt erst als Ausgangs- und Bezugspunkt dieser Aktivitäten kenntlich und greifbar. Es markiert die Emanzipation der Musik von den außer­musikalischen Bedingungen ihrer Produktion. Der Ort der Musik ist nun nicht mehr der Zusammenhang ihrer liturgischen oder politisch-rhetorischen Verwendung, sondern das imaginäre »Museum der Werke«, von dem Franz List in einem Text von 1835 in Analogie zum Louvre spricht, dem Repositorium der großen Werke der ­bildenden Kunst aller Epochen.15

Zur Umwidmung des Artefakts zum Werk gehört eine Veränderung seiner Sinnstruktur. Zumal in der Tradition der Schriftreligionen, in denen sakrale Autorität sich auf eine heilige Schrift gründet, bedurften Texte der Auslegung und der Interpretation. So entfaltete in der christlich-abendländischen Tradition der biblische Text seine Funktion als Träger einer sakralen Autorität durch die Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn. Diese Lehre, die im Katechismus der katholischen Kirche bis heute kodifiziert ist, legt offen, was sich zugetragen hat (buchstäblicher Sinn), was zu glauben ist (allegorischer bzw. theologisch-dogmatischer Sinn), was zu tun ist (moralischer Sinn) und wonach zu streben ist (anagogischer Sinn). Im Zuge der Reformation, die dem Leser das Wort Gottes ohne Mittelsmänner zugänglich machen will, wird aus der Lehre vom ­vierfachen Schriftsinn schließlich der historisch-kritische Ansatz der modernen Hermeneutik. Im Feld der Literatur wiederum, von dem man auch behaupten kann, dass es durch die Umwidmung des Textes zum Werk überhaupt erst in seinem modernen Sinn entsteht, vollzieht sich diese vorab durch das, was Maurice Blanchot den »Rückzug der Sprache aus dem Lauf der Welt« nennt.16 Literatur wird zur »stummen Rede«, wie Rancière es durchaus im Anschluss an ­Blanchot nennt, und die Kunst verschafft sich ein »ästhetisches Unbewusstes«: eine Sinnstruktur, die dem Werk einen Anteil an Unausgesprochenem, ja Unaussprechlichem einschreibt, das freizulegen die Aufgabe der Interpretation ist, das sich aber, wie im Falle des hermetischen Gedichts, das in diesem Sinne das paradigmatische Werk dieser neuen Wissensordnung der Kunst ist, der vollständigen Auslegung stets entzieht, oder genauer: stets aufs Neue entzieht.17 Um auf Szondi zurückzukommen: Das philologische Wissen muss eine Tätigkeit sein und kann kein systematisches Wissen werden, weil das Werk einen Anteil der stummen Rede einbehält: weil es von seiner Sinnstruktur her ein Schloss ist, das immer wieder zuschnappt.


Um von der Umwidmung des Musikstücks zum Werk einen Begriff zu geben, macht Liszt, wie erwähnt, eine Anleihe bei der bildenden Kunst: Er stellt sich einen Louvre der musikalischen Werke vor. Man kann aber durchaus die Frage stellen, ob es nicht gerade die zeitbasierte Kunst der Musik ist, und die im Zeichen des Werkbegriffs erst etablierte Praxis der Aufführung als Interpretation, die ihrerseits der Literatur und der Literaturwissenschaft das Modell für ein Verständnis von Kritik liefern, welche die Erkenntnis des Kunstwerks als Vorgang in der Zeit versteht und nicht als verfügbares Wissen.


Blanchot verweist auf eine Hölderlin-Interpretation, in der ­Heidegger das Gedicht mit einer schwebenden Glocke vergleicht und die Interpretation mit leichtem Schnee, der die Glocke zum Klingen bringt. Kritik in diesem Sinne »vollendet sich und erreicht ihr Ziel erst, wenn sie verschwindet«.18

Zu diesem Verständnis von Kritik gehört auch, dass sie, wie die Interpretation eines musikalischen Werkes, zugleich ephemer und singulär bleibt. Sie bezieht sich auf spezifische Werke, wie Jean Starobinski festhält; Verallgemeinerbarkeit, wie sie zum wissenschaftlichen Wissen und zur »Theorie« gehört, ist von ihr nicht zu erwarten: »Die turbulente Unregelmäßigkeit, der Widerspruch zwischen den Werken und innerhalb der Werke würden überdeckt durch die invasive und monotone Ausbreitung der ›Theorie‹.«19

Wider die Tendenz der westlichen Kultur, so Starobinski im Anschluss an Blanchot, alles auf die Rationalität allgemeiner Begriffe herunterzubrechen, behauptet sich die Literatur, in dem sie sich dem »apaisement«, der Beschwichtigung durch die Verallgemeinerung gerade verweigert. Es ist die Aufgabe einer Kritik, die mehr ist als Gericht und Vergleichung, diese Weigerung zur Sprache und zur Geltung zu bringen, dort einzuspringen, wo das »scheinbar fraglose Selbstverständnis eines bestimmten Realitätskonzepts an der Fremdheit des zu interpretierenden Diskurses zuschanden wird«, wie Manfred Frank es formuliert.20

Statt das Kunstwerk auf allgemeine Begriffe zu bringen, schafft eine solche Kritik einen Resonanzraum für das Werk, in welchem, so Blanchot, »für einen Augenblick die sprachlose, unbestimmte Realität des Werks sich in Sprache verwandelt und sich in dieser umreißt.«21 Der Interpretation eines musikalischen Werkes ist eine solche Kritik auch darin verwandt, dass sie selbst gestaltend wird. Die Herausbildung des Werkgedankens markiert für Starobinski »einen Wendepunkt, an dem die Kritik nicht mehr damit beschäftigt ist, eine bereits bestehende Autorität zu stützen, sondern sich selbst zu einer formenden Kraft macht.«22 Die Kritik ist mit anderen Worten nicht nur Erkenntnis des Werks der Kunst, sie ist selbst eine schöpferische Tätigkeit.23 Die Kritik, die mehr ist als Gericht und Vergleichung, ist, wenn man so will, ein Ins-Werk-Setzen des Werks. Mehr noch: Die Kritik gehört, so Blanchot, bereits zur Realität des Werks.


»Wenn die Kritik jener offene Raum ist, in dem sich das Gedicht mitteilt, wenn sie danach strebt, vor diesem zu verschwinden, damit es erscheinen kann, dann deshalb, weil dieser Raum und diese Bewegung des Verschwindens […] schon zu der Wirklichkeit des literarischen Werks gehören und in diesem am Werk sind, während es sich bildet; nach außen gelangen sie gewissermaßen erst in dem Moment, in dem das Werk sich vollendet, und damit es sich vollendet.« 24

Die Kritik als das schöpferische Ins-Werk-Setzen des Werks ist die Vollendung des Werks: In der Bewegung des Zur-Sprache-Bringens des Werks und des Verschwindens vor dem Werk liegt die Einheit von Kunst und Kritik. Damit wird zugleich auch deutlich, woher sich das von Blanchot, Starobinski und Szondi vertretene Verständnis von Kritik speist, nämlich aus dem Kritikbegriff der Frühromantik.25 »Für die Romantiker«, schreibt Walter Benjamin in seiner Studie zum Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, »ist Kritik viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die Methode seiner Vollendung.«26 Als Methode der Vollendung tritt die Kritik aber nicht von außen ans Werk heran: »Sofern Kritik Erkenntnis des Kunstwerks ist, ist sie dessen Selbsterkenntnis, sofern sie es beurteilt, geschieht es in dessen Selbstbeurteilung.«27 Selbsterkenntnis und Selbstbeurteilung des Werks kann die Kritik deshalb sein, weil die Kunst nicht Mittel des Ausdrucks oder der Repräsentation ist, sondern Reflexions­medium – die Aufgabe der Kunstkritik ist die »Erkenntnis in dem Reflexionsmedium der Kunst«: 


»Kritik ist also gleichsam ein Experiment am Kunstwerk, durch welches dessen Reflexion wachgerufen, durch das es zum Bewusstsein und zur Erkenntnis seiner selbst gebracht wird.«28

Das effektivste Verfahren dieses Experiments am Kunstwerk ist dabei die Zerstörung der Form, wie Benjamin sie etwa in den »zerfetzten Romanen« von Jean Paul ausmacht: »Weit entfernt, eine subjektive Velleität des Autors dazustellen, ist [die] Zerstörung der Form die Aufgabe der objektiven Instanz in der Kunst, der Kritik.«29 Gerade in der Zerstörung der »bestimmten Darstellungsform des Werkes« aber bestätigt sich die Kunst als »Universalwerk« und als Reflexionsmedium. 


Im Experiment am Kunstwerk liegt, jenseits der Arbeitsteilung des modernen Kunstbetriebs und der doppelten Beziehung von Gericht und Vergleichung, die mögliche Einheit von Kunst und Kritik. Der Künstler wird zum Kritiker, wenn er nicht nur Genealoge seiner selbst und seiner Kunst ist, sondern auch Experimentator am Werk.


Godard, der erste Genealoge seiner selbst im Feld des Films, hat demnach nie aufgehört, auch Kritiker zu sein: Sein Werk ist ein fortgesetzter Angriff auf die bestimmte Darstellungsform des Films und ein laufender Kommentar zum Kino selbst, ein unendlicher Roman des Kinos – seit den frühen 1970er Jahren verfasst im Dialog mit seiner Lebens- und Arbeitspartnerin Anne-Marie Miéville. In besonderer Weise gilt dies für »Histoire(s) du cinéma«, die durchaus die ­Vollendung der modernen Kunst im Kino sind, aber nicht in dem von Colin McCabe intendierten Sinne als das lang erwartete filmische Gegenstück zu James Joyce, sondern als Kommentar im Horizont der Einheit von Kunst und Kritik30 und ein Ins-Werk-Setzen des Uni­versalwerks des Kinos im Modus der zerfetzten Form.

Das Experiment und die damit verbundene Interpretationsleistung kann auch weniger als »Un-Werk« (wie bei Godard) und mehr als Prozess, der vom Künstler nur an- oder losgestoßen wird, verstanden werden. Ein Beispiel dafür wäre Andy Warhol. Wenn er beispielsweise die Kamera einfach anschaltet und weggeht, also das Werk dem filmtechnischen Automatismus der Darstellung überlässt, übt sich Warhol in der Zerstörung der bestimmten Form durch das Medium der Darstellung selbst, eines »cinéma sans cinéma«, wie es am Ende von André Bazins Aufsatz über Vittorio de Sica heißt, der mit Zavattinis Vision eines Kinos endet, das ganz in der Darstellung des Lebens aufgeht. Chantal Akermans »Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles«, wäre ein weiteres Beispiel für ein »cinéma sans cinéma«, für eine Zerstörung der Form, in der das ­Universalwerk sich als Reflexionsmedium behauptet.


Schließlich wäre, an die Werbe-Virtuosität von Godard wie von Warhol anknüpfend und radikal industrielle Formen der Kultur­kommunikation in den Blick nehmend, der Trailer zu nennen: Eine von Autorschaft freie Form, die systematisch die Form des Werks zerfetzt, um vor diesem zu verschwinden und ihm Platz zu machen. Das Ideal der zeitgenössischen Hollywood-Produzenten ist der »critic proof film«, der Film, dem die Kritiker, die im Modus von Gericht und Vergleichung arbeiten, nichts anhaben können. Der Trailer, der mehr Publikum erreicht als jeder Kritiker, besorgt die Absicherung des Universalwerks des Kinos gegen diese Form der Kritik. Jenseits aller subjektiven Velleität des Künstlers leistet er die Arbeit einer objektiven Instanz der Kunst. Denn Trailer dürfen den Film zerlegen, aber sie dürfen nicht lügen. 


Die Herausforderung an die Kritik besteht demnach darin, dasselbe Reflexionsniveau zu erreichen wie ein Godard, ein Warhol, eine Akerman oder ein Trailer.


Anmerkungen


1 Jean-Luc Godard: Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard, Paris 1968), S. 286.


2 Vgl. Sergei Eisensteins »Allgemeine Geschichte des Kinos«. Eingeleitet von Antonio Somaini und Naum Klejman, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, No. 4, 1/2012.


3 Man kann dem entgegenhalten, dass die Avantgarden des Kinos selbstverständlich ein kunsthistorisches Bewusstsein pflegten, ja zur Voraussetzung hatten. Deren Ehrgeiz besteht allerdings darin, den Film nach dem Modell der Malerei und der Kunst zur abstrakten Kunst zu machen. Sie operieren nach dem Prinzip der transmedialen Formatierung und kommen auch deshalb ohne filmspezifische Genealogien dieser Kunst aus.


4 Zur Anthropologie des Zeitgenössischen vgl. Paul Rabinow: Marking Time. On the Anthropology of the Contemporary, Princeton 2007.


5 Vgl. F.D.E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977, S. 241. 


6 Walter Benjamin: »Einbahnstraße«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band IV.1, Frankfurt/M. 1991, S. 109–110.


7 Peter Szondi: »Traktat über philologische Erkenntnis«, in: Ders.: Schriften, Band 1, Berlin 2011, S. 264.


8 Die Ansätze reichen von der »empirischen Literaturwissenschaft« über Franco Morettis neo-marxistischen Ansatz des »distant reading« und der statistischen Durchdringung großer Literaturkorpora (vgl. Franco Moretti: Graphs, Maps, Trees: Abstract Models for a Literary History, London 2005) bis hin zu den vielfältigen Anstrengungen, Literatur unter wissens- statt form- oder kunsthistorischen Gesichtspunkten zu betrachten und die Literatur­geschichte so auf das vermeintlich sichere Terrain anzuschließen, auf dem die Geschichte der Naturwissenschaften sich bewegt.


9 Maurice Blanchot: Lautréamont et Sade, Paris 1963, S. 9, Übers. VH


10 Ebd., Übers. VH.


11 Szondi: »Traktat über philologische Erkenntnis«, a.a.O., S. 266.


12 Vgl. Jean Starobinski: La relation critique, Paris 1970, S. 27.


13 Vgl. dazu Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin 2006.


14 Lydia Goehr: The Imaginary Museum of Musical Works. An Essay in the Philosophy of Music, New York/Oxford 2007, S. 102–103.


15 Ebd., S. 205.


16 Maurice Blanchot, L’espace littéraire, Paris 1955, S. 21 und S. 25.


17 Jacques Rancière: Das ästhetische Unbewusste, Berlin/Zürich 2005; Ders.: Die stumme Sprache. Essay über die Widersprüche der Literatur, Berlin/Zürich 2010. 


18 Blanchot: Lautréamont et Sade, a.a.O., S. 10. Übersetzung VH.


19 Starobinski: La relation critique, a.a.O., S. 49, Übersetzung VH.


20 Manfred Frank, Einleitung, in: Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, a.a.O., S. 20.


21 Blanchot: Lautréamont et Sade, a.a.O., S. 12.


22 Starobinski: La relation critique, a.a.O., S. 27, Übersetzung VH.


23 Ebd., S. 28, Übersetzung VH.


24 Blanchot: Lautréamont et Sade, a.a.O., S. 12, Übersetzung VH.


25 Der philologischen Vollständigkeit halber sei daran erinnert, dass Blanchot sich in »L’entretien infini« (Paris, 1971) ausführlich mit Novalis, den Gebrüdern Schlegel und dem Kritikbegriff der Romantik befasst. Seine Rezeption der deutschen Frühromantik geht derjenigen von Lacoue-Labarthe, Nancy und Rancière voraus und bereitet ihr den Weg. 


26 Walter Benjamin: »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band I.1, Frankfurt/M. 1991, S. 68.


27 Ebd., S. 66.


28 Ebd., S. 65.


29 Ebd., S. 65.


30 Ich greife hier einen Gedanken von Philipp Stadelmaier auf, der eine ­Doktorarbeit zu Godard und Daney vorbereitet.

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Vinzenz Hediger

studierte Philosophie, Filmwissenschaft und Amerikanistik in Zürich. 1993 bis 2000 arbeitete er als Medienjournalist und Filmkritiker für Fachzeitschriften und größere Schweizer Tageszeitungen. Von 2004 bis 2011 war er C4-Professor für Theorie und Geschichte bilddokumentarischer Formen an der Ruhr-Universität Bochum, seit 2011 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Filmwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Filmphilosophie und der Geschichte der Film- und Medientheorie sowie in der Erforschung nicht-kanonischer Filmformate, vom Wissenschaftsfilm über den Industriefilm bis zum Lehrfilm. Zur Geschichte der Filmtheorie verfolgt er ein derzeit auf rund fünfzehn Bände angelegtes Editionsprojekt mit dem Titel Film Theory in Media History, das bei Amsterdam University Press publiziert wird.

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18 Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien

Broschur, 320 Seiten

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Die vielfach geforderte Freiheit des Einzelnen, Kunst nach eigenem Gutdünken zu rezipieren, zu genießen, aber auch zu produzieren und damit zu definieren, ist heute weithin Realität geworden. Wir leben im Zeitalter der Laienherrschaft in den Künsten und den mit ihnen verbundenen Medien: einem Regime, das auf der Dynamik der Massen-Individualisierung und dem Kontrollverlust etablierter Autoritäten beruht, in dem jede Geltung relativ ist und die Demokratisierung in ihrer ganzen Ambivalenz zum Tragen kommt.

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