Mehdi Belhaj Kacem, Philippe Sollers
Wofür steht der Tod der Avantgarden?
Übersetzt von Michael Heitz
Veröffentlicht am 11.07.2019
Mehdi Belhaj Kacem: Philippe Sollers, Sie waren 23 Jahre lang Herausgeber der Zeitschrift Tel Quel, wohl die letzte bedeutende Literaturzeitschrift, die man als »avantgardistisch« bezeichnen kann. Sie haben dort die damals bedeutendsten Schriftsteller der sogenannten »Avantgarde«, wie Pierre Guyotat, Maurice Roche, Jean-Jacques Schuhl, aber auch ihre eigenen Texte veröffentlicht, zudem damals noch weitgehend unbekannte Professoren wie Jacques Derrida, Roland Barthes oder Gérard Genette. Darüber hinaus haben Sie Texte von Pierre Boulez oder Jean-Luc Godard publiziert, jeder auf seinem Gebiet eine Schlüsselfigur der Avantgarde. 1983 haben Sie die Editions du Seuil verlassen, den Verlag nicht nur der Zeitschrift, sondern auch Ihrer eigenen Bücher, um daraufhin zu Gallimard zu wechseln, wo Sie die Zeitschrift L’infini gründeten, die sich in mehrerer Hinsicht von Tel Quel unterscheiden sollte. In Ihrem literarischen Schaffen findet dieser Wechsel seine Entsprechung in der Wegstrecke, die von Paradis (1981), einem interpunktionslosen monologischen Schreibfluss von fast 300 Seiten, zu Femmes (1983) führt, das sich mit seiner deskriptiv-psychologischen Schreibweise an einen relativ »klassischen« Romanstil hält. (Ich möchte anmerken, dass ich das keinesfalls abwertend meine, sondern dass für mich die »Form« von Femmes auf eine gewisse Weise mit ihrem »Inhalt« korrespondiert, der bereits so etwas wie einen Totenschein der Avantgarden darstellt.) Diese Geste wurde damals von vielen als Verrat aufgefasst, als Verrat an einem gewissen avantgardistischen Geist zugunsten des Mainstream. In meinen Augen handelte es sich jedenfalls um eine sehr bedeutende Wegmarke beim Untergang der Avantgarden. Das Ende von Tel Quel geht in meiner Lesart einher mit der fast vollständigen Aufgabe Ihres eigenen »experimentellen« Schreibens, was allgemein eines der spektakulärsten Symptome des Scheiterns der Avantgarden darstellt, deren Überreste hier gewissermaßen einer Autopsie unterzogen werden sollen.
Als Sie Anfang der 1960er Jahre gemeinsam mit Jean-Edern Hallier die Zeitschrift gründeten, die später zur wichtigsten avantgardistischen Literaturzeitschrift ihrer Generation werden sollte, verstand diese sich aber keineswegs als eine solche. Das Vorbild schien vielmehr die Nouvelle revue française zu sein, das Gesicht des Verlags Gallimard nahezu das ganze 20. Jahrhundert über.
Nun also zu meiner ersten Frage: Wo würden Sie bei Tel Quel den Wendepunkt hin zur Avantgarde ausmachen?
Philippe Sollers: (schweigt) Ich muss sogleich die Klassifizierung in Frage stellen, die meiner Meinung nach zutiefst normativ und akademisch ist und bereits vom Erbe der Avantgarde beeinflusst. Gerne kann ich ein weiteres Mal tun, was ich immer tue: einen Katalog, oder genauer, eine veritable Enzyklopädie dessen zu entwerfen, was sich im 20. Jahrhundert und eigentlich schon seit viel längerem abgespielt hat. Die Zeitwahrnehmung ist hier ganz entscheidend. Wenn man aufmerksam hinschaut, kann man einen bestimmten Zeitbegriff ausmachen, dem die Avantgarde, oder besser die Avantgarden, Vorschub geleistet haben. Das liefert dann unmittelbar eine Antwort: Beginnend mit dem Koma, das, wie Sie sagen, in den 1970er Jahren einsetzt, bis hin zum vollständigen Zerfall, den ich sehr begrüßt habe und der mein Ziel war. Der die Avantgarde total bestimmende Zeitbegriff ist zutiefst mit dem in der Russischen Revolution propagierten verbunden.
MBK: Sie nehmen meine Fragen vorweg!
PS: Das liegt am Grund ihrer Frage, und die ist noch immer nicht geklärt. Schließlich muss man massive Konsequenzen ziehen in Bezug auf das, was aus Mangel an Zeit, aus einem total defizitären Zeitdenken heraus systematisch ignoriert worden ist. Eine wesentliche Schrift hierzu liegt bereits vor: Sein und Zeit.
Die Avantgarde von Tel Quel bestand letztlich darin, die Philosophen anzusprechen, ihnen die Frage, die immergleiche Frage übrigens nach der Literatur vorzulegen. Warum denkt die Literatur weiter als die Philosophie? Das ist die Frage. Ersetzen Sie das Wort »Literatur« durch »Dichtung« und Sie stoßen auf jemanden, der als Philosoph, auch wenn er bis zu seinem Tod die Bezeichnung Philosoph ablehnte, dazu Grundlegendes gesagt hat: Unterwegs zur Sprache, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Sie landen also bei Martin Heidegger, dem auf diesem Gebiet auch heute noch definitiv obersten maudit. Also, von da an, bereits mit meinen Büchern Drame und L‘écriture et l‘expérience des limites, das einen damals, 1965, bedeutenden Text zu Dante enthält: Was hat das mit der Avantgarde zu tun? Ganz einfach: Die Avantgarde damals, das war Dante. Dass die erste richtige Dante-Übersetzung von der vor nicht langer Zeit gestorbenen Jacqueline Risset stammt, deren Arbeit glücklicherweise die grauenhafte Pléiade-Übersetzung überflüssig macht, belegt das. Was an Dante ist Avantgarde? So muss man die Frage stellen.
MBK: Das ist ein weites Feld. War dann nicht auch Bach Avantgarde? Und Sophokles…
PS: Erst von da aus lässt sich doch erahnen, was eine Strategie sein könnte. Erste Elemente stellten L’écriture et l’expérience des limites und später dann Theorie des exceptions bereit, bei der es wie seit langem schon um etwas sehr Spezifisches ging: monumentale Einzigartigkeiten, Singularitäten.
Man beharrt auf den Eigenarten und umgeht die Gemeinsamkeiten. Der Fehler, die große Dummheit der Avantgarden war, um jeden Preis das Gemeinsame herbeiführen zu wollen.
MBK: Bataille ist da allerdings eine Ausnahme…
PS: Aber ja doch, lieber Herr Belhaj Kacem, schließlich war es Bataille, der, weil er nicht wusste, wohin sonst damit, sich mit einem Text an Tel Quel wandte. Er saß genau da, wo Sie jetzt sitzen, inmitten eines monumentalen Schweigens. Zweifellos war er es, der über »Ort und Form« bestimmte. Das war dann der sogenannte Vortrag über das Nicht-Wissen, erschienen in der Nummer 10 von Tel Quel. Da sehen Sie: Es geht darum, dass man sehr beharrlich die Eigenarten auswählt.
Und dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass – während der ganze Rest verschwindet – die Avantgarde von Tel Quel, wenn auch nur im Sinne von Tel Quel, fortbesteht, ohne dass man eigentlich wüsste, warum das so ist. Die Literaturgeschichte jedenfalls vertraut darauf. Wenn Sie das in den Kontext einordnen, dann handelt es sich um ein extrem komplexes Spiel, bei dem es darum geht, mit widersprüchlichen oder gegensätzlich erscheinenden Figuren Züge zu
machen.
Nehmen Sie Antonin Artaud und Sie werden sehen, dass uns das sehr weit bringen wird. Mich persönlich zum Beispiel hat das bis vor Gericht gebracht, wo man mich wegen der Publikation der Vorträge von Vieux-Colombiers verurteilt hat. Doch wer erscheint als Avantgarde?
MBK: Einzigartiges, Singularitäten.
PS: Zuallererst Mister Joyce! Sehen Sie, nun können Sie eine Verbindung zwischen Dante und Joyce herstellen, Sie können eine Verbindung zwischen Bataille und Artaud herstellen. Und wer ist Avantgarde in der Malerei? Picasso natürlich! Man braucht sich nicht hinter Duchamp und Co. zu verstecken. Die Avantgarde trägt eine Schuld…
MBK: Sie tragen eine Schuld?
PS: Nein! Denn ich habe niemals einfach eine avantgardistische doxa unterstützt. Was man »Gegenwartskunst« nennt, ist doch nichts anderes als die Fäulnis der Avantgarde, also der Kunst. Wie die Literatur eine vom Marketing gesteuerte Neuauflage.
MBK: Ich kann mir vorstellen, dass wir hinsichtlich der Frage der Zeit gegen Ende des Gesprächs auf einige ebenso weitreichende wie eindeutige Punkte stoßen werden.
Ich stelle aber trotz allem noch einmal meine Frage, die Sie bislang noch immer nicht beantwortet haben: Tel Quel präsentiert sich in seinen Anfängen zunächst nicht als eine avantgardistische Zeitschrift. Es gibt aber eine Wende, da wir nun von Zeit sprechen…
PS: Wir sprechen von einer Zeitschrift, die sich ganz und gar klassisch präsentiert. Das Vorwort haben Francis Ponge und ich im Jardin du Luxembourg ausgebrütet. Ist Ponge ein avantgardistischer Autor? Die Avantgarde betrachtet ihn nicht als einen der ihren. Später wurde er dann schließlich anerkannt, von einem Philosophen vom Format eines Sartre. Die Frage zielt also auf die Art und Weise, in der die Philosophen von Literatur sprechen. Haben sie eine Ahnung davon? Wirklich? Inwiefern? Inwieweit, usw.? Das war eine ständige, viel zu wenig beachtete Geste von Tel Quel. In dieser Perspektive war die Beweisführung nun wirklich außergewöhnlich. Kurz und bündig: Der Erste, der zum Tel Quel-Kolloquium in Cerisy erschien, und der seine Texte ab Nummer 15 bei uns publizierte, war ein gewisser Herr Foucault, mit seinen beiden damals ziemlich wichtigen Büchern Die Geburt der Klinik und Geschichte des Wahnsinns. Daraufhin folgten andere rasch nach, insbesondere Derrida.
Und dann galt es – eine Spezialität von mir –, so etwas wie eine brennende Lunte zu sein gegen das, was sich zum Akademismus der Avantgarde entwickeln sollte… Und mit Lacan nahm das sehr schnell eine Dimension an… ich ging jeden Dienstag in sein Seminar. Das war außergewöhnlich.
MBK: Der keine Professur hatte. Wenn Sie von »Philosophen« sprechen, meinen Sie aber doch Universitätsprofessoren. Das ist hinsichtlich der Entwicklungsgeschichte von Tel Quel, wie auch der Ihren, von einer gewissen Bedeutung.
PS: Die Universität… das Problem an dieser ganzen Avantgarde-Geschichte ist aber doch – ich wiederhole mich –, dass das alles von einer gigantischen Illusion und Hochstapelei herrührt, die in der Russischen Revolution ihren Anfang nimmt.
MBK: Das würde ich gerne vertiefen, denn da liegt doch die Kernfrage nach der Avantgarde, eben jener Knoten, der Kunst und Politik verbindet.
PS: Ja. Absolut.
MBK: Avantgarde ist ein Begriff von Lenin, nicht von Dada.
PS: Die Bewegung vom Juni 1971 ist in dieser Hinsicht ganz entscheidend. Warum? Weil sich alle, die sich, vor allem an der Universität, auf diese avantgardistische und also kommunistische Illusion beriefen, letztendlich und nichtsdestotrotz bei Tel Quel zu Hause fühlten.
MBK: Mich interessieren die Szenen dieser Beziehung. Nachdem Sie dann sukzessive die Verbindungen zu den Universitätsprofessoren gekappt haben, beginnt Joyce eine sehr wichtige Rolle zu spielen – die Texte, die in den letzten Nummern von Tel Quel über ihn erschienen, gehören zum Besten, was ich über ihn gelesen habe, ein Symptom, meiner Meinung nach, oder gar ein Sinthome, wie Lacan sagen würde, also mehr auf eine Psychose, denn auf eine Neurose bezogen. Eine der Besonderheiten von Tel Quel im Vergleich zu den »gewöhnlichen« Avantgarde-Zeitschriften, wenn ich so sagen darf, ist es, dass sie derart viele Akademiker publiziert hat, die ihrerseits so etwas wie eine Avantgarde der Universität bildeten…
PS: Natürlich. Was meinen Sie denn, warum die an der Universität es damals alle auf mich abgesehen hatten? Die fühlten sich alle wie zu Hause! Während die Universität in der Folge des Mai 68 auf massive Weise, wie nie zuvor oder danach, an das verkauft wurde, was man Kommunismus nannte, an all das, was man damals, wenn Sie so wollen, als linke Avantgarde hätte bezeichnen können. Es gab die geniale politische Idee, das alles in ein Ghetto mit Namen Vincennes zu sperren, sodass man nur hätte warten müssen, bis alles verfault. Und wer waren die Strippenzieher dahinter? Das waren Madame Cixous und Monsieur Derrida, sieh da. Man hat sich also überworfen.
MBK: 1972 also, zum Zeitpunkt des »Glaubenswechsels« hin zum Maoismus. Ist das der Moment, da Sie mit der Universität brechen? Das ist doch merkwürdig – das fällt mir gerade auf, da wir davon sprechen…
PS: Nicht 72, sondern 71. Seien wir genau in den Abläufen. Die Bewegung vom Juni 1971, mit kleinen Heftchen, die übrigens eine gewisse Beachtung verdienen und nach meinem Dafürhalten durchaus als avantgardistisch zu bezeichnen sind. Nicht im Sinne einer akademischen Geschichte der Avantgarde, die aber doch auch ein gewisses Interesse verdient. Marc Dachy hat sich unter anderen damit befasst. Ich bin durchaus stolz, auch das verlegt zu haben.
MBK: Ich möchte auf einigen etwas harten, journalistischen Fragen beharren, die Sie indes selbst aufgeworfen haben. Ich meine erneut die Wende zur Avantgarde, einige datieren sie ab 1966, d.h. im Zusammenhang des Engagements von Tel Quel gegen den Vietnamkrieg. Zwei Jahre später, wenn ich mich nicht täusche, erfolgt dann der Beitritt zur Kommunistischen Partei Frankreichs. Und vier Jahre später, infolge des Bruchs mit dieser, das Bekenntnis zum Maoismus. Ich glaube, dass wir hier an den blinden Fleck der ganzen Geschichte rühren, also an die unübersehbare Verbindung von äußerster Vitalität und vorzeitigem Tod. Die Ideologie der Avantgarde war im 20. Jahrhundert ein vorzüglicher Treibstoff. Das kann man ihr jedenfalls nicht absprechen. Wie die Romantik im 19. Jahrhundert. Hölderlin oder Baudelaire sind keine Romantiker, doch wäre aus ihnen ohne die unterirdische Strömung, die das gesamte 19. Jahrhundert durchzog, weder ein Hölderlin noch ein Baudelaire geworden...
PS: Man muss auf die Tatsache hinweisen, dass das wichtigste Ereignis trotz allem der Surrealismus war.
MBK: Es gab aber doch auch Dada.
PS: Ja. Der Dadaist sagt: »Ich habe den Dadaismus gemacht«. »Wir machen den Dadaismus«, und tatsächlich, sie haben ihn gemacht. Es gibt darüber ein kleines Gedicht von Aragon, das es wert ist, dass man sich dessen erinnert. Meine Treue zu André Breton blieb ungebrochen. Ich habe immer wieder erzählt, welche Widmung mir am meisten bedeutet hat. Es war jene von 1962, in der Neuauflage des Manifests des Surrealismus: »Für Philippe Sollers, Liebling der Feen.«
MBK: Ein letztes Mal nun also meine Frage: Wie erklären Sie sich den plötzlichen Tod der Avantgarden trotz ihrer Vitalität. Ich würde von einem Trauma sprechen, weil dieser Tod derart plötzlich eintrat, dass niemand ihn wahrhaben wollte… Um es in psychoanalytischem Vokabular zu sagen: Er wurde nicht einfach verdrängt, man hat ihn verworfen. Man hat die Avantgarden verworfen, die Avantgarde als Ideologie.
Dem bezeichnenden Knoten von Kunst und Politik entspricht hier jener von Literatur und Politik. Ich wiederhole mich, denn das ist der entscheidende Punkt. Und doch ist es Lenin, der den Begriff geprägt hat, nicht Dada.
PS: Ja, das war in Zürich, aber es war nicht Lenin. Das ist wichtig. Was man Lenin trotz allem zugutehalten kann, sind die Hefte über Hegels Dialektik. Hier setzt mein Interesse an der Philosophie ein, damit beschäftige ich mich vor allem, immer schon. Die Philosophie. Mein Gott. Zunächst mit Husserl, den ich schon sehr früh gelesen habe. Und dann Hegel, dem ich ein ganzes Buch, Mouvement (2016), gewidmet habe. Ich glaube, ihn in angemessener Weise zu behandeln, indem ich den umwälzenden Irrtum von Marx kritisiere. »Die Dialektik vom Kopf auf die Füße stellen…«, schön und gut, aber an diesem Punkt gibt es keinen Kopf mehr. Das ist grundlegend. Nun gut. Nietzsche hingegen ist ein absoluter Schock…
MBK: Der sich seit den Anfängen auf dem Frontispiz von Tel Quel zitiert findet…
PS: Aber natürlich. Und dann, bereits sehr schnell, sehr früh Heidegger. Die beiden Nietzsche-Bände hat niemand gelesen. Nicht einmal ihr Übersetzer, Pierre Klossowski, hat sie gelesen. Die Verdrängung, Verkennung Heideggers ist sonderbar, sie zieht sich durch die ganze Geschichte seiner politischen Kompromitierung – alles übertrieben. Nun, ein in der Tat avantgardistischer und äußerst wichtiger Autor ist Céline! Welcher Autor der »Avantgarde« hat die Sprache derart umgegraben wie Louis-Ferdinand Destouches?
MBK: Das passt gut zusammen. Nach dem Bruch mit der Universität, kommen Sie mit Joyce und Céline, und gehen auf Distanz zum Maoismus…
PS: Und mit Proust – ich führe Ihnen einen avantgardistischen Reigen vor. Proust ist verkannt. Total boykottiert von der Avantgarde. Ein Fehler, ein Riesenfehler.
MBK: Ja, nur haben auch Sie in Tel Quel damals nicht von Proust gesprochen.
PS: Nein. Ich habe den richtigen Moment abgewartet. Man muss die Sache in einem längeren Zeitraum betrachten, um zu begreifen, welche Strategien am Werk sind. An dem Punkt, an dem ich heute bin – nun, Sie kennen meine Enzyklopädien (lacht)… Mit dem Film ist es das Gleiche. Da ist der große Avantgardist für mich definitiv Hitchcock.
Nehmen Sie diese schöne kleine chinesische Erfindung, den »Maoismus«. Mein Gott, was für ein Skandal! Wir sprechen noch immer davon. Und wer hing ihm an? Ich habe aus Peking ein sehr schönes Gedicht mitgebracht. Die Chinesische Revolution interessiert mich. Ohne China kein Maoismus. Es gab Philosophen, die waren Maoisten, ich nenne keine Namen. (lacht) Aber was denen an der ganzen Sache entgangen ist, das ist das chinesische Element. Man machte sich nicht klar, dass sich das in China abspielt. Als wir 74 hingefahren sind (mit Julia Kristeva und Roland Barthes), gab es 700 Millionen Chinesen, heute sind es dreimal so viele. 2030 wird das Bruttosozialprodukt Chinas das größte der Welt sein. Das heißt doch, dass die Avantgarde gar nichts hat kommen sehen. Aber wirklich überhaupt nichts.
Natürlich gibt es die Avantgarde, ihre Sekten, wenn Sie so wollen. Ihre historische Vision. Aber sie hat kein wirklich grundlegendes philosophisches Denken. Das ist das Problem. Ich habe da noch einen Skandal für Sie – ich bin wirklich ein Spezialist auf diesem Gebiet: Polen zur Zeit von Johannes Paul II – forever. Ich bin damals wirklich viel herumgekreuzt. Ich habe ihm schließlich ein kleines Buch über Dantes Göttliche Komödie geschenkt – ganz schön hartnäckig, nicht wahr? Wem sonst wollen Sie ein Buch über die Göttliche Komödie überbringen, diese erhabene transzendentale Möglichkeit, wenn nicht einem Papst? Ich überreiche es ihm also, es gibt ein Photo von dem Treffen, das einen Skandal auslöste. Ich wurde bei dieser Gelegenheit auch noch gesegnet. Gesegnet von einem Heiligen, er wurde ja schließlich kanonisiert. Ich spüre die Segnung jeden Tag! Ich würde behaupten: Das war nun wirklich eine avantgardistische Arbeit. Ja, wirklich. (lacht)
MBK: Das Problem ist, dass alle Ihre Antworten bereits meine Fragen enthalten, was wiederum vorhersehbar war. Ich mache also weiter mit etwas, das für Sie schnell erledigt sein dürfte. Immerhin sind Sie ein hervorragender Schachspieler. (lacht) Was also die Verbindung von Kunst und Politik anbelangt, aus der sich sowohl die Vitalität wie auch der vorzeitige Tod der Avantgarden gleich welchen Typs erklärt, so gab es zur gleichen Zeit wie Tel Quel, so zwischen 1957 und 1972, noch eine Zeitschrift, über die sehr viel gesprochen wurde, und die den gleichen Namen trug wie die Gruppe ihrer ziemlich randständigen Mitglieder. Ich meine die Internationale situationniste. Deren Ansichten waren, nun wie soll ich sagen, härter, mehr Hardcore, jedenfalls extrem anders als jene Tel Quels. Wir werden hier nicht all die Unterschiede aufzählen können, das würde zu weit führen. Da Sie aber eine sehr lange und komplexe Beziehung mit ihrem sogenannten »Papst«, Guy Debord, unterhielten, würde ich darüber gerne etwas von Ihnen hören.
PS: Das ist sehr wichtig. Erste Beobachtung: Die Situationistische Internationale, wie auch Debord selbst, waren nicht im Stande, irgendeinen grundlegenden Gedanken über Malerei zu formulieren.
MBK: So ist sie nun mal, die Avantgarde. (lacht)
PS: Zweiter Punkt: Debord, den ich trotz allem gemocht habe, denn…
MBK: … er ging nicht eben zart mit Ihnen um!
PS: So ist das eben. Ich lese. Ich lese aufmerksam. Debord jedenfalls blieb, während er die italienische Ausgabe der Gesellschaft des Spektakels überarbeitete, der Idee des Proletariats treu. Was erstaunlich ist zu einem Zeitpunkt, da nicht nur die Idee, sondern auch der Gegenstand selbst im Verschwinden begriffen war. Bitte beachten Sie stets, um was es mir geht: Welche Zeitlichkeit? Vorausgesetzt, es gäbe so etwas wie eine »kommunistische Hypothese«… Ich bewundere Debords Charakter und seine Energie, seinen Stil, der hyperklassisch war! Und doch so weit weg von allem Avantgardistischen…
MBK: Hier bringen Sie mich auf eine grundlegende Frage, die zu stellen ich gar nicht vorhatte. Seit meiner Jugend ist für mich beides wichtig, die SI und Tel Quel. Es gibt eine Spannung zwischen dem, was ich durch die Schriftsteller der Letzteren, und dem, was ich durch die Situationisten erfahren habe, also zwischen den außerordentlichen sprachlichen, »textlichen« – wie Sie das damals nannten – Innovationen, welche die Schriftsteller von Tel Quel vorführten, ohne dass sie außerhalb des Schreibens irgendein besonderes Aufsehen produzierten, und dem hemmunsgslosen, schrecklich wirksamen »Aktionismus« der Situationisten, der aber in einer äußerst klassischen Sprache daherkam. Auch heute noch, dreißig Jahre später, ist diese Spannung für mich fruchtbar.
PS: Debord war ein großer General…
MBK: Wir haben über Lenin gesprochen… Die Avantgarde ist zuallererst ein militärisches Konzept.
PS: Natürlich. Ich hingegegen bin ein eher sonderbarer Kardinal (lacht)… Debord war ein großartiger General, der erkannt und verstanden hatte, dass er sich völlig allein, eingeschlossen, krank in der Auvergne befand, einem unheimlichen Ort. Er begriff, dass er nichts anderes tun konnte, als dem ein Ende zu bereiten. Das ist alles.
Das Fade an einem solchem Prozess, an einem derart erlittenen Prozess ist nun aber ausgerechnet seine hyperromantische Note.
MBK: Ja, natürlich.
PS: Der Film, der die Wahrheit über Debord am Besten erzählt, weil man darin seine Stimme hört, ist In girum imus nocte et consumimur igni. Seine leicht melancholische Stimme… Melancholie, Melancholie… in girum… Wir sind im dreizehnten Gesang von Dantes Hölle.
MBK: In Venedig…
PS. Ja, aber ein Venedig in Schwarz-Weiß! Auf keinen Fall in Farbe (lacht)… Vorsicht, vorsicht. Jedes Detail zählt. Also: Wir irren im Kreis und werden vom Feuer verzehrt. In Ordnung. Ein Palindrom, wenn Sie so wollen, das ist schön. Doch schlussendlich befinden wir uns in der Hölle.
In Bezug auf Dante ist das interessant. Jemand wie Beckett ging nicht weiter als bis zum Purgatorium. Debord findet sich in der Hölle wieder… eine heroische Hölle! Also wirklich! Ich befasse mich mit dem Paradies, doch dafür gibt es keine…
MBK. Abnehmer?
PS: Es gibt niemanden. Man befindet sich in herrlicher Einsamkeit, mit einer Menge an Dingen, endlich, Klänge, Erscheinungen, Formen, Gestalten, die sich miteinander vermengen. Diese Erfahrung habe ich schon sehr früh gemacht und mir dann gesagt, die Wette gehe ich ein: Die Avantgarde, das ist Dante! Also etwas, das alle nur anwidert. Aus Unkenntnis, theologischer Unkenntnis, ganz einfach Unkenntnis.
MBK. Da wir darüber sprechen. Sagt das nicht auch etwas über Ihr Verhältnis zu Pierre Guyotat? Ist Guyotat nicht der zeitgenössische Dante, doch einzig der Hölle?
PS: Nun… Eden, Eden, Eden!
MBK: (lacht) Ja, ja. Stimmt.
PS: Warum das Wort drei Mal wiederholen? (lacht) Guyotat fand bei Tel Quel jede denkbare Unterstüzung. Wir sind noch immer befreundet. Was übrigens nicht so leicht ist. Doch Joyeux animaux de la misère oder die anderen Texte wie Koma… nun, da gibt es jedenfalls auch noch einen sehr romantischen Horizont.
MBK. Die Avantgarde ist die Tochter der Romantik.
PS: Man muss die Avantgarde wirklich genau unter die Lupe nehmen, mitsamt all ihrer Protagonisten und Frauengeschichten. Ich glaube – auch das eine Spezialität von mir –, darauf sehr schnell und wirksam hingewiesen zu haben. Denn unter diesem Gesichtspunkt lässt sich in jedem einzelnen Fall etwas finden, das gärt und etwas enthüllt. Von Aragon brauchen wir nicht zu sprechen. Breton brauchte eine Frau nur anzusehen, schon hatte er sich in sie verliebt, und dann musste er sie unverzüglich heiraten und dergleichen. Es gibt die berühmten Gespräche der Surrealisten über Sexualität, da haben Sie es, das ist jedenfalls alles ganz lustig. Ich übergehe Artaud, zwecklos da einzudringen… Das alles ist jedenfalls erschreckend, ein einziges sexuelles und puritanisches Elend.
Eine meiner Hypothesen ist, dass das Wuzel des Problems bei Baudelaire liegt. Warum ist er derart vom Schirm der Avantgarde verschwunden, wie man heute sagen würde. Die Blumen des Bösen, das ist doch was. Warum dieser Titel?
MBK: Die Frage des Bösen beschäftigt mich unablässig.
PS: Ich würde bei Sade sehr genau darauf achten, was er über das Höchste Wesen schreibt. Doch wie heute etwas Neues über Sade schreiben, denken? Der Weg über Sade ist ein wenig ausgetreten. Ich rühme mich auf diesem Feld durchaus konkreter avantgardistischer Aktivität, schließlich habe ich Antoine Gallimard die Pléiade-Ausgabe unterbreitet und sie dann auch verantwortet. Sade auf Bibelpapier, nun, das ist… (lacht).
Aber das ist nicht alles. Entscheidend ist Lautréamont. Das gerade neu aufgelegte Werk Lautréamont par lui-même von Marcelin Pleynet, einem sehr bedeutenden Dichter im Tel Quel-Umfeld, wurde 1967 publiziert, zu einem Zeitpunkt, da Aragon gerade ein bisschen wach wird, weil er dann doch etwas bemerkt. Gemeinsam mit Breton hatte er Lautréamont et nous verfasst. Und dieses »Wir«, das sind Aragon, Breton und die Wahnsinnigen im Militärkrankenhaus Val-de-Grâce, wo sie sich während der Bomben auf Paris gegenseitig lauthals schreiend Lautréamont vorlesen. Und wissen Sie, was die leitende Psychiaterin, eine Frau, die in Fresnes allerschwierigste Erfahrungen mit Extremststraftätern, Serienmördern gesammelt hat, sagt? Das größte Buch für sie, das sind Die Gesänge des Maldoror!
MBK: Ja, das ist interessant. Ich lese zwar kaum Zeitungen, aber das Gespräch in Le Monde ist mir nicht entgangen. Alles, was sie erzählt, ist packend. Eine bewundernswerte Frau.
PS: Sie hat sich über 15 Jahre einer Psychoanalyse unterzogen, man kann sich vorstellen, dass Lacan da nicht weit ist. Das muss man sich genauer anschauen. Ich glaube, die Avantgarde ist dort, wo man sich glaubt auszukennen, wovon man aber in Wirklichkeit keine Ahnung hat.
Wenn Sie zu dem Schluss kommen, dass niemand mehr liest, und alle eine fröhliche Unwissenheit pflegen, dann haben Sie eine Vorstellung davon, worauf ich hinauswill.
MBK: In Ordnung. Schön. Ich möchte aber noch einmal auf die bereits gestellte Frage nach den Unterschieden zwischen Tel Quel und den Situationisten zurückkommen. Es gab ja durchaus dieses Symptom geradezu kriegerischer Feindseligkeiten an der Universität. Zudem hatte ich angemerkt, dass Sie, wenn Sie von »Philosophen« sprechen, eigentlich Universitätsprofessoren meinen. Es gibt ja aber auch solche, die wie Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche, Bataille u.a. in erster Linie Autoren sind. Das gehört auch in diesen Kontext. Ich würde also gerne noch einmal auf die Beziehungen zu sprechen kommen, die Tel Quel mit der Universität unterhielt, was einen signifikanten Unterschied zu den Situationisten markiert, die jeglichen Kontakt in diese Richtung strikt ablehnten, und wenn, dann nur, um dadaeske Skandale vom Zaun zu brechen wie in Strasbourg, die zum Mai 68 beitrugen…
Natürlich war Tel Quel nicht nichts, es brachte einen der sehr seltenen Augenblicke in der Geschichte der Philosophie hervor, dem man später das Label French Theory verpasste. Schließlich gibt es kaum ein anderes Beispiel einer Avantgardegruppe, die es verstand, die Professorenschaft in sich aufzunehmen.
PS: Nun, für mich stellt sich die Sache recht einfach dar. Wir können das Thema dann gerne rasch erledigen… (lange Pause) Und zwar mit Hilfe des Klassenkampfes (lacht). Der Lehrkörper rekrutiert sich in überwältigender Mehrheit aus der Mittelklasse und dem linksgerichteten Kleinbürgertum; Mehdi, diese Leute verzeihen mir meinen Wohlstand, den ich zweifellos meiner bürgerlichen Herkunft verdanke, nicht. Das ist das Problem. Ein anderes gibt es nicht. Das ist derart stark, dass ich gezwungen bin, immer wieder an den Umstand zu erinnern, dass mein Leben nicht mit der Publikation meines ersten, von Mauriac und Aragon gefeierten Buches einsetzt, sondern dass ich in diesem so beeindruckenden Hinterland von Bordeaux, mit seinem besonderen Lebensstil und beständigem Zauber, gelebt habe, aus dem ich immer wieder meine Energie gezogen habe, eben um diesem Klassenhass, dem ich seit meinen Anfängen im Bereich der Literatur ausgesetzt war und bin, zu entkommen. Nun, darüber spricht Ihnen kein Avantgardist.
Ganz sicher hat Debord gegen mich intrigiert, denn wahr ist, dass er schon sehr früh finanziell ruiniert war, ohne dass er aus dem Proletariat gekommen wäre, weit gefehlt. Dieses verbissene Proletarier-Werden-Wollen kam mir immer, nun ja, komisch vor.
Also: Der Lehrkörper besteht definitiv aus nichts anderem als reaktionären, d.h. linken Kleinbürgern. (lacht)
MBK: Also gut. Ich werde Ihnen eine andere Frage stellen, nein, eigentlich ist das gar keine Frage, sondern eher ein Hinweis, der schon wieder sehr lacanianisch ist. Warum läuft es denn so schlecht zwischen Philosophie und Literatur, ich meine das ernst. Es ist wirklich wie im Leben, es gibt Liebesgeschichten, das wissen Sie ja allzu gut, und die meiste Zeit läuft das ziemlich schlecht, aber manchmal, da geht es dann doch sehr gut, ganz wunderbar sogar. Das Paradies jedenfalls muss man in dieser Richtung suchen. Das Paar Philosophie und Literatur aber, ohne jetzt festlegen zu wollen, wer hier Mann und wer Frau ist, macht den Eindruck, überhaupt nie zu funktionieren.
PS: Das läuft doch nur allzu gut! (lacht) Wenn auch nur in eine Richtung. Alles eine Machtfrage. Aus diesem Grund, Mehdi, habe ich mir sehr früh sehr schnell klar gemacht, dass man den Philosophen sehr genau zuhören muss, um zu verstehen, was sie mit der Literatur anstellen.
Schauen Sie, ich habe mal eine ziemlich klassische Kampagne gefahren, eine Höllenguerilla, und trotzdem sind auf meine Anfrage alle eingestiegen. Vergessen Sie nicht, dass es ein Buch von einem Herrn Derrida mit dem Titel Dissémination gibt, das in den Universitäten weltweit rezipiert wurde, aber dessen Gegenstand, mein Buch Nombres, ist nie übersetzt worden. Es ist nicht ins Englische übersetzt worden. Wie kann man einen Kommentar zu einem Buch lesen, das nicht übersetzt vorliegt? Da haben wir das Problem des Französischen, lieber Herr Belhaj Kacem. Das Problem des Französischen der französischen Sprache. Warum habe ich auf einmal den Eindruck, dass die vermeintlichen Avantgarden so schlecht in Französisch sind? Französich, dieses Wunder mit seiner ununterbrochenen Reihe von Genies, von Sade über wen auch immer, nehmen Sie meinen Landsmann Montaigne, bis hin zu Baudelaire. Eine sehr, sehr brutale Frage. Der Einzige, der… nun, Breton hatte keinerlei Probleme, er schrieb ein exzellentes Französisch. Aragon, im Unterschied zu den Kommunisten, denen er auf dieser Ebene so weit er konnte entkam, sauber, sauber. La semaine sainte, 1958, das war auch der Moment, als er mein Genie entdeckte. Er wollte, dass ich es weitertrug. Debord, bewundernswert, perfekt, sein Französisch, das er, und zwar zurecht, als eine möglicherweise bereits tote Sprache betrachtete, die so genau wie möglich gebraucht werden musste.
MBK: Mit Sorgfalt.
PS: Indem man sich für sie aufopfert. Das ist es, was ich getan habe.
MBK: Etwas Trivialeres: Wie kam es zu dem folgenschweren Übergang von Tel Quel zu L’infini, wessen Entscheidung war das, wie ist das abgelaufen? Ich finde es erstaunlich, dass man Sie nie dazu befragt hat. Nicht dass ich wüsste jedenfalls. Kann man das zeitlich fassen?
PS: Das ist ganz einfach. Ja, es gab ihn, den konkreten Zeitpunkt. Wir genossen mit Tel Quel vollkommene Autonomie … Es ist ziemlich ungewöhnlich, dass ein Verleger drei Zeitschriften gründet, um damit eine vierte kaputt zu machen! Die Éditions du Seuil haben das Manöver vollführt: Da gab es Change (Wandel) von Jean-Pierre Faye, Poétique von Gérard Genette, Cixous und anderen. Und dann gab es da uns – in irgendeinem hinteren Winkel –, doch wir hatten zwei sehr bedeutende Unterstützer: Roland Barthes, dessen Bücher immerhin in der Reihe Tel Quel erschienen. Barthes, ein Freund bis zuletzt, großartig. L’amitié (Die Freundschaft), mitsamt Briefwechsel, ist kein schlechtes Buch. Die Frage nach wahrhaft tiefer Freundschaft. Und dann war da Lacan. Wir waren also unantastbar. Wie bitte? Sollers? Tel Quel? Was soll das? Das geht nicht. (lacht)Und dann sind sie gestorben, beide.
MBK: In der Tat, daran habe ich nicht gedacht, aber jetzt wird mir das natürlich klar. Sie haben das in Femmes beschrieben.
PS: Kaum sind die beiden tot, spüre ich unverzüglich, dass sich unsere Situation verschlechtert. Wir bekommen keine Unterstützung mehr, nichts. Wir liegen im Schützengraben, umzingelt von allen anderen (lacht). In dem Moment, lieber Mehdi, nehmen wir zur allgemeinen Bestürzung einen Kleinlaster und fahren mit unseren Papierkisten, zuerst einmal aus hygienischen Gründen, 200 Meter rüber zu Denoël, die Teil der Gallimard-Gruppe sind. Wie das möglich war? Oh… Oh, war das schön! (lacht)
MBK: Noch ein Sympton, das letzte und gewiss nicht das uninteressanteste: Tel Quel propagierte Autoren der Vergangenheit, die gewissermaßen selbst Avantgarde waren: Lautréamont, Mallarmé, Joyce, Bataille, Artaud… womit Sie signalisierten: »Hier passiert etwas«. Auch das war ziemlich neu damals, denn die avantgardistische Marschrichtung bestand ja sonst eher darin, Tabula rasa zu machen – etwas, das im Bereich der Gegenwartskunst heute in derart parodistischer Weise perpetuiert wird, dass man nicht weiß, ob man lachen oder heulen soll.
PS: Man braucht Überzeugungen. Ich habe welche. Sehr starke.
MBK: Mit L‘infini dehnen Sie den Radius der Literaturkritik nun beträchtlich aus. Sie verteidigen weiterhin alles, was Sie zur Zeit von Tel Quel gelesen haben, ohne davon aber weiter zu sprechen, u.a. Proust, Céline, nun aber auch Fitzgerald, Hemingway etc. Verteidigen Sie alles, was Sie jemals gelesen haben?
PS: So einfach ist das.
MBK: Es gibt da ja immerhin so etwas wie eine Wiederkehr des Verdrängten.
PS: Aber natürlich! Weil ich mich auf das vorbereite, was in diesem Krieg auf dem Spiel steht: Dass nämlich bald niemand mehr irgendetwas lesen wird. Die digitale Kommunikationsflut ist irreversibel. Also interessiert es mich ganz besonders, zu wissen, woher das kommt. Ich nehme die Idee von Barthes wieder auf, derzufolge man sich erneut an eine Enzyklopädie machen sollte. Er hat dieser Einsicht ein Buch über die Tafeln von Diderots und d‘Alemberts Enzyklopädie folgen lassen. Wunderbar! Man muss sich wieder an eine Enzyklopädie machen. Nun, genau das mache ich.
MBK: Was uns auf das bringt, was man den »medialen« Sollers nennen kann (den man mit einem Verrat an der Avantgarde in Verbindung bringt) und der ein gefundenes Fressen darstellt. Sollers war hingegen bereits in den 1960er und 1970er Jahren ziemlich präsent in den Medien, eben mit Tel Quel (»intellektueller Terrorist« u.ä.m.), doch mit Femmes und L’infini ist man dann von allen Seiten über Sie hergefallen. »Sollers, der Histrione der französischen Öffentlichkeit«. Ich habe mich immer wieder gefragt, warum man gerade über Sie hergefallen ist und über keinen anderen damals prominenten Schriftsteller. Sie scheinen da so eine Art Sündebock gewesen zu sein, doch für was?
PS: Nun, das Spektakel – durchaus im Sinne von Debord – verfügt über eine gigantische Macht. Um mit und in diesem Spektakel leben zu können, braucht man – wenn ich so sagen darf – ein sehr spezielles Nervenkostüm.
MBK: In ihrem letzten Buch finden sich fantastische Sätze über diesen Verfall der Avantgarden. Und da Sie nunmal so etwas wie ein Avantgardist des Endes der Avantgarden sind, kann man Sie historisch darauf festlegen. Das ist es, wofür Sie nun gewissermaßen zu bezahlen haben. Man wirft Ihnen vor, der Totengräber der literarischen Avantgarde zu sein. Da ich finde, dass diese Überlegungen exemplarisch sind, für das, was passiert ist, zitiere ich den folgenden Satz aus ihrem Buch: »Die schleichende, von Freud angekündigte Entdeckung jedoch besteht darin, dass die Vergangenheit von nun an die Zukunft ist. Nicht die lineare Vergangenheit, wie sie von der Schulgeschichtsschreibung erzählt wird, sondern eine explosive Vergangenheit, deren DNA man erst langsam zu entziffern beginnt. Das 21. Jahrhundert stellt mit seiner gegenwärtig extremen Gegenwartsfixierung eine ernsthafte Entziehungskur dar, bei der das jeweilig Einzigartige von Vergangenem, von der Vorgeschichte bis in unsere Tage, in besonderer Weise hervortritt. Welch Überraschungen warten auf uns! Welch wunderbare Enzyklopädie!«
PS: Ja, und es geht ums Aussortieren. Wir leben im Zeitalter des Aussortierens. »Ja, sie ist sehr ernst, die neue Stunde.« Es geht ums Aussortieren. Schließlich… wer sagte das nochmal? »Wo Totengräber sind, da braucht es Leichen«.
MBK: (lacht) Das ist wunderbar, ein schönes Schlusswort!
PS: »Totengräber der Avantgarden«, das wäre ich gerne. Haben Sie den Dialog der Totengräber aus Hamlet präsent?
MBK: Nein.
PS: Der ist wirklich schön. Wirklich schön… »Komm, den Spaten her! Es gibt keine so alten Edelleute als Gärtner, Grabenmacher und Totengräber: sie pflanzen Adams Profession fort.«