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Georges Perec: Betrachtungen über die Brillen
Betrachtungen über die Brillen
(S. 125 – 140)

Perec par excellence – für Anfänger und Fortgeschrittene

Georges Perec

Betrachtungen über die Brillen

Aus: Denken/Ordnen, S. 125 – 140

Über die Schwierigkeit, im Allgemeinen und insbesondere in meinem Fall über Brillen zu reden. Über Brillen zu schwadronieren scheint auf den ersten Blick, wenn ich einmal so sagen darf, ein trockenes und prosaisches Thema, wenig geeignet, Begeisterung und Überschwang hervorzurufen. Als es einst hieß, durch das Aufkommen dieser gewölbten Linsen habe die Menschheit einen Riesenschritt nach vorne getan, weil es jenen, die nicht gut sahen, endlich die Möglichkeit gab, besser zu sehen oder nicht mehr ganz so schlecht, da schien es, als hätte man nun alles oder fast alles gesagt, um anschließend mit leichter Feder das sagenhafte Schicksal jener zu beschwören, die ohne Brille vielleicht nicht das geworden wären, was sie waren, von Leo X. bis Goya, von Chardin bis Theodore Roosevelt, von Toulouse-Lautrec bis Gustav Mahler und von Émile Littré bis Harold Lloyd.


Andererseits, und dieser zweite Punkt ist sicherlich wichtiger als der erste, könnte es sehr gut möglich sein, dass dies ein Thema ist, dem gegenüber ich mich eigentlich für unzuständig und unzulänglich erklären müsste. Weil ich bis zum heutigen Tage im Genuss einer guten, wenn nicht sogar einer wirklich scharfen Sicht gewesen bin, habe ich in der Tat nie eine Brille getragen, so dass folglich meine Erfahrung auf diesem Gebiet äußerst gering, um nicht zu sagen gleich Null ist. Sicherlich haben zahllose Denker und Philosophen aufs großartigste Dinge erörtert und behandelt, von denen sie, zu Anfang wenigstens, keinen blassen Schimmer hatten, doch von einem Menschen, der nie eine Brille auf der Nase gehabt hat, ein Referat über Brillen zu verlangen, scheint mir immerhin, zu
 Anfang jedenfalls, ebenso problematisch wie von einem ­Menschen, der nie in China gewesen ist, eine Beschreibung Chinas zu verlangen, von einem Autobusfahrer seinen Eindruck über Dreiräder oder über die Rennwagen der Formel 1 oder von einem Vegetarier das Zelebrieren des Entrecôte, obgleich gerade dieses Beispiel schlecht gewählt ist, denn es könnte durchaus sein, dass der Vegetarier rotes Fleisch verabscheut, während ich persönlich nichts gegen Brillen habe.


Über die innere Ausgeglichenheit, die ich dennoch empfinde, wenn ich ein solches Thema angehe. Nachdem dies klargestellt ist, unterbreite ich gleichwohl dem Leser die nun folgenden Betrachtungen mit einem tröstlichen Gefühl. Ein Brillenträger wäre versucht, alles auf sich persönlich zu beziehen, würde sich ereifern, vom Thema abkommen, sich in müßigen Abschweifungen und unpassenden Erläuterungen verlieren, würde den Ursprung all seiner Übel und all seines Glücks auf die ­inadäquate Krümmung der Hornhaut oder der Linse seiner Augen beziehen und am Ende nicht einmal mehr wissen, wo er seine Brille hingetan hat. Während ich die Sache gelassen, leidenschaftslos und unvoreingenommen betrachten kann, ebenso bereit, mich mit dem Fall der Weitsichtigen zu beschäftigen wie das Problem der Kurzsichtigen zu untersuchen, und zwar mit einer hellsichtigen Gleichgültigkeit, die weder Sympathie noch Berufsethos ausschließt.


Über meine Erfahrung mit Brillen. Obgleich ich, wie schon gesagt und wie ich sicherlich noch öfters werde sagen müssen, keine Brille trage, habe ich zu Hause mehrere Gegenstände, die unmittelbar zwar nichts mit der Verbesserung, wohl aber mit dem Schutz, der Vergrößerung und selbst der Verhöhnung der Sehkraft zu tun haben. Es handelt sich im vorliegenden Fall: 1) was den Schutz angeht, a) um eine große Sonnenbrille mit runden Gläsern und einer Fassung, die eine ungefähre Schildpattimitation »Made in France« ist, die mir sehr schlecht steht und mir auch gar nicht gehört, und b) um eine Skibrille, bestehend aus einer Gummifassung, einem elastischen Stirnband und einem ins orangefarbene spielenden gelben Glimmer­blech, das von zwei Druckknöpfen an der Fassung gehalten wird und je nach der Helligkeit des Himmels und der Blendung des Schneefelds von zwei anderen, heute verloren gegangenen Blechen in verschiedenen Farbtönen ersetzt werden kann; ich habe mich dieser Brille vor fünf Jahren zwei Tage lang bedient und werde mich ihrer wahrscheinlich nie wieder bedienen; sie ist mir eher zufällig in die Hände gefallen, als ich die Schublade aufzog; 2) was die Vergrößerung angeht, a) um ein ganz kleines Opernglas aus schwarzem Metall, das zwar nur mittelmäßig vergrößert, aber sehr bequem zu handhaben ist und die Gegenstände sowohl näherzubringen als auch zu entfernen vermag; ich habe es vor einigen Jahren anlässlich einer Aufführung von La Bohème in der Pariser Oper (mit, falls ich mich nicht irre, Pavarotti und Mirella Freni) ausgeliehen und bis jetzt versäumt, es seinem rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben; b) um drei Lupen: eine monokulare Juwelierslupe, eine rechteckige Lupe mit Stahlrändern und einem schrägen Griff aus schwarzem Plastik, und eine große, runde Lupe, eingefasst in Britanniametall, mit einem Horngriff und zwei fein gearbeiteten Zwingen; ich mag diese Lupe so sehr, dass ich sie auf dem Einband einer Erzählung (Das Kunstkabinett) abbilden ließ, die der so genau wie möglichen Beschreibung eines Bildes gewidmet war (ganz allgemein muss ich sagen, dass ich Lupen sehr mag; ich hatte noch eine vierte, ein Weberglas aus Kupfer oder Messing, aber ich habe sie leider verlegt); 3) was schließlich die Verhöhnung angeht, so handelt es sich hier um einen Scherzartikel, eine Brille, deren »Gläser« zwei karikaturistisch auf Spezialpapier gemalte Augen sind, ein Papier, bei dem man vielleicht von Doppelbrechung sprechen müsste, da es die Besonderheit besitzt, entweder ein halb zusammengekniffenes Auge oder aber ein weit aufgerissenes, hervorstehendes, ein wenig meergrünes und stark schielendes Auge erscheinen zu lassen, je nachdem, ob man mehr oder weniger mit dem Kopf nickt; zwei kleine Löcher erlauben dem Träger dieser Brille, die unerträgliche Gereiztheit zu sehen, die sie über kurz oder lang bei denen hervorruft, die ihm gerade gegenüberstehen.


Über das, was geschieht, wenn ich eine Brille aufsetze. Vorübergehend und, um es vorweg zu sagen, aus experimentellen Gründen habe auch ich eine Brille; ich habe sie mir von einem Freund ausgeliehen, der ein gutes Dutzend Brillen besitzt, große und kleine, ovale, viereckige, runde, helle, gefärbte, ­solche, denen ein Bügel oder ein Glas fehlt. Als ich sie trug, wollte ich eine Hypothese überprüfen, die ein Augenarzt nicht ohne Vorbehalt akzeptieren würde, die mir aber intuitiv wahrscheinlich erscheint, dass nämlich das, was ich sehe, wenn ich eine Brille aufsetze, dem gleicht, was der, der wirklich eine Brille braucht, sieht, wenn er keine trägt. Ich weiß nicht, ob ich mich klar verständlich mache, jedenfalls ist die Wirkung erstaunlich und spektakulär. Das Experiment dauert nie länger als zwei oder drei Minuten, bevor mich ein entsetzliches Kopfweh packt, doch ich kann in diesen wenigen Augenblicken eine ganze Skala von Eindrücken empfinden, von denen einer so verblüffend ist wie der andere. Wenn ich einen Gegenstand ganz aus der Nähe betrachte (zum Beispiel, wenn ich mich bis auf wenige Zentimeter über mein Blatt Papier beuge, während ich diese Zeilen schreibe), dann scheint mir zuerst, als sähe ich sehr viel besser, und das mit einer völlig ungewohnten plastischen Wahrnehmungsfähigkeit, die ein wenig der ähnelt, die man bei jenem amüsanten Physikinstrument empfindet, das man früher Stereoskop genannt hat; wenn ich dann den Kopf hebe und langsam um mich schaue, wird alles verschwommen, unscharf, leicht nebelhaft: die Konturen des Gegenstands biegen sich, die Volumen verflachen, die Einzelheiten geraten durcheinander, und die kleinsten Bewegungen des Kopfes machen auf mich den Eindruck, als würde sich das, was ich sehe, gleichzeitig mit mir verschieben, als ob der Raum unbeständig und sogar, mit einem Wort, ein klein wenig klitschig werden würde; aber wenn ich unglücklicherweise aufstehe, auf meine Füße schaue und einige Schritte mache, dann, so habe ich den Eindruck, offenbart sich mir aufs Schmerzlichste das ganze Elend jener, die schlecht sehen: meine Füße sind so weit weg, dass ich mich unwillkürlich frage, wie sie es anstellen, mich zu tragen und mir zu gehorchen, der Boden schwankt, die Wände schaukeln. Es ist ungefähr das, sage ich mir, was Fernandel empfinden muss (in einem Film, der, glaube ich, Staatsfeind Nr. 1 heißt, falls es nicht Der Mann im Regenmantel ist), als er beim Erwachen, völlig kurzsichtig, tastend dem auf einem breiten schwarzen Band mit Pfeilen angezeigten Weg folgt, der von seinem Bett zur Ablageplatte seines Waschraums führt, wo er als ordentlicher Mensch am Abend zuvor seine Gläser zurückgelassen hat, das typische Beispiel für einen Gag, der mich umso mehr entzückt, als er völlig unmotiviert ist, da der gesunde Menschenverstand natürlich verlangt hätte, dass er sie einfach in die Schublade seines Nachttischs legt. Oder auch dem, was Raymond Queneaus Pierrot empfinden mag, als er, zum Assistenten des Fakirs Crouia-Bey geworden, im persischen Kostüm, aber kurzsichtig, nach einer mühsamen Anpassungszeit schließlich begreift, was der besagte Fakir mit den langen Hutnadeln macht, die er ihm gewissenhaft hingehalten hat.


Über die Geschichte der Welt vor der Brille. Die klassische Malerei bietet uns zahlreiche Beispiele von dargestellten Personen, die gerade lesen oder schreiben. Zum Beispiel, hier aus dem Zusammenhang heraus zitiert: die Jungfrau aus der Verkündigung von Antonello da Messina, in der Münchener Pinakothek; das Porträt des Paracelsus von Rubens, in Brüssel; das Porträt des Arztes Georg van Zelle von Van Oley, ebenfalls in Brüssel; das Porträt Christoph Plantins von Rubens, im Museum Plantin-Moretus in Antwerpen; die beiden Porträts von Erasmus von Rotterdam, von Hans Holbein dem Jüngeren, in Basel und von Quentin Metsys in Rom; der heilige Ivo von Van der Weyden, in London; die Mutter Rembrandts von Gerard Dou, in Rotterdam; das Porträt eines Edelmanns von Lorenzo Lotto, in Venedig; das junge Mädchen, einen Brief lesend, von Jean Raoux, im Louvre; der Prophet Jeremias vom Meister der Verkündigung aus Aix-en-Provence, in Brüssel; das Porträt Jonathan Swifts von Charles Jervas, in der National Portrait Gallery; der heilige Hieronymus in seinem Arbeitszimmer, von Antonello da Messina, in der National Gallery; oder der Heilige Augustin von Carpaccio, in der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni in Venedig. Ziemlich oft haben die porträtierten Personen den Kopf gehoben, sich in Positur gesetzt und zum Himmel oder in die Ecke geschaut. Es ist aber interessant, jene zu betrachten, die weiterlesen. Der Prophet Jeremias scheint ein völlig normales Sehvermögen zu haben; das junge Mädchen von Jean Raoux ebenfalls, obgleich es sich, um zu lesen, übertrieben einer Lichtquelle entgegenneigen muss; der heilige Ivo ist ziemlich und die Mutter Rembrandts völlig kurzsichtig; was den Heiligen Hieronymus angeht, so ist er wirklich weitsichtig.


Was machte man, bevor es Brillen gab? Man kann sich diese Art Fragen auch im Hinblick auf Tausende anderer Gegenstände des Alltagslebens stellen (den Radiergummi, die Schere, die Waage, die Uhr, den Kompass, den Magnet, die Matratze, das Bügeleisen, den Türdrücker, das Rad, die Hosenträger, die Zahnbürste und die Teigwaren, die, wie jeder weiß, von Marco Polo 1295 aus China mitgebracht worden waren). Man kann wohl kaum anders antworten als: Die Leute sahen zu, wie sie klar kamen, oder sie litten darunter, das heißt in dem Fall, der uns beschäftigt, dass sie blinzelten, zwei- oder dreimal hinschauten und beim Suppe Essen die Nase tief im Teller hatten. Vielleicht tranken sie Habichtskrauttee, jene Pflanze, die ihren Namen der Tatsache verdanken soll, dass sie die Sehkraft des Habichts verstärkt, aber nichts ist so unsicher wie dies.


Über die Erfindung der Brille. Die Erfindung der Brille ist zugeschrieben worden: a) den Chinesen (natürlich); b) dem arabischen Physiker Ibn al-Haytham al-Hazin (Abu ’Ali Muhammad ibn al-Hasan, auch Alhaçan genannt), Al-Hazem, genannt Ptolemäus Secundus, geboren in Bassora 965 und gestorben in Kairo 1039; c) Roger Bacon (1214–1294), genannt der Wunderdoktor, der auch der Erfinder der Luftpumpe, des Schießpulvers und eines Projekts zur Reform des Kalenders sein soll; d) dem florentinischen Physiker Salvino degli Armati 
(1245–1317): Seine Arbeiten über die Stärke und die Brechung des Lichts schwächten bereits in jungen Jahren sehr stark seine Sehkraft; bei dem Versuch, diesem Gebrechen abzuhelfen, fand er gegen 1280 zwei Gläser, die bei einem bestimmten Grad der Dicke und der Krümmung die Gegenstände vergrößerten. Er war also der Erfinder der Brille und wollte dieses Geheimnis für sich behalten (ich frage mich wirklich, warum); doch sein Freund Alessandro della Spina, ein Dominikanermönch aus dem Kloster der heiligen Katharina in Pisa, verriet es ­(Dézobry und Bachelet, Lexikon der Biographie); e) Alessandro della Spina (siehe weiter oben); f) und sogar dem Neapolitaner J. B. Porta (1540–1615), der auch der Erfinder der Camera obscura und der Autor von vierzehn Komödien, zwei Tragödien und einer Tragikomödie sein soll.


Über die frühere Mannigfaltigkeit der Brille. Es gibt oder besser es gab nicht nur Brillen. Es gab auch Zwicker, Kneifer, Lorgnetten, Monokel, Lorgnons, Stielbrillen und Sonnenschutzbrillen. Schwierig, sich darin zurechtzufinden. Der nun folgende Versuch einer systematischen Klassifizierung zieht drei Kriterien in Betracht: Anzahl der Gläser, Art der Gläser, Fehlen oder Vorhandensein von Bügeln.


1.1. Ein einziges Glas, ohne Bügel: das Monokel.


1.2. Ein einziges Glas mit Bügeln: die Zyklopenbrille ­(selten).


2.1. Zwei Gläser ohne Bügel.


2.1.1. In der Hand gehalten: die Stielbrille.


2.1.2. Auf der Nase sitzend: das Lorgnon, der Zwicker und der Kneifer (die drei Ausdrücke sollen Synonyme sein; doch allein beim Kneifer unterscheidet das Lexikon der Wörter und der Dinge – von Larive und Fleury – Bd. 2, S. 417 – den gewöhnlichen Kneifer, den japanischen Kneifer, den Kneifer mit Haken und den zusammenschiebbaren Kneifer. Man kann dem noch den Korrekturkneifer hinzu­fügen.


2.2. Zwei Gläser, mit Bügel.


2.2.1. Mit Korrekturgläsern: die eigentlichen Brillen (in Wirklichkeit gibt es mehrere Arten von Bügeln: Schläfen­bügel, gabelförmige Bügel usw., aber das würde uns zu weit führen).


2.2.2. Die Lichtschutzbrillen, manchmal mit dunklen Gläsern, Brillen für Kurzsichtige, die ihren Namen nicht zu sagen wagen.


Ich hoffe, die Dinge sind damit klarer.


Über die Brillen heute. Stielbrillen, Kneifer, Monokel, Zwicker, Lorgnon und Lichtschutzbrillen sind heute nur noch ein Zubehör für Filme über die Belle Epoque. Hingegen gibt es auch heute noch eine große Anzahl von Spezialbrillen: Straßenwärter- oder Steinklopferbrillen (mit, anstelle der Gläser, Schutzblenden aus feinem Drahtgewebe), Autoschlosserbrillen, Schweißerbrillen (die, jedenfalls in der Werbung, die wirklichen Stars des Films Das Geständnis waren) Motorradfahrerbrillen, Skibrillen, Unterwassertaucherbrillen, Bergsteigerbrillen usw., ohne die reiche Auswahl von Sonnenbrillen zu vergessen.


Über die Gestelle. Ein Gestell setzt sich aus zwei Kreisen, einem Steg und zwei Bügeln zusammen. Die Form des Stegs variiert je nach der Form der Nase. Zu Ende des letzten Jahrhunderts unterschied man so:


– den X-Steg für flache Nasen;


– den K-Steg für gewölbte Nasen;


– den C-Steg für ausgesprochene Höckernasen.


Diese Auskünfte habe ich von dem unersetzlichen Larive und Fleury bekommen, der auch darauf hinweist, dass die besten Brillengestelle aus Nickel sind, wegen ihrer Widerstandsfähigkeit gegen Verformungen, dass Silber und Gold nur aus Luxus verwendet werden und dass Büffelleder und Schildpatt mit der Zeit eine schmutzige und unansehnliche Farbe bekommen.


Über das Leben mit einer Brille. Es gäbe viel zu sagen über die Art und Weise, wie die Leute mit ihrer Brille leben, wie sie diesen Mangel, diese Unschärfe, die sie eines Tages dazu gezwungen hat, die Fehler und Schwächen ihrer Sehkraft durch diese kleine bewegliche Prothese zu ersetzen, in Gebärden, in Gewohnheiten, in Regeln verwandeln. Eines Tages standen sie mit einer Brille da, und eine ganze Reihe von Gebärden sind ihnen vertraut geworden, haben nach und nach zu ihrem Alltagsleben gehört, und charakterisieren sie ebenso deutlich wie ihre Art zu sprechen, ihre Serviette zusammenzufalten, ihre Zeitung zu lesen. Man müsste über diese Gebärden sprechen, die sie ein paar Dutzend Male am Tag machen, wie sie ihre Brille auf der Nase zurechtrücken, wie sie sie abnehmen, wie sie sie weglegen, wie sie sie putzen, wie sie sie handhaben. Kurzum, man müsste für die Brillen die Arbeit machen, die Marcel Mauss für das entworfen hatte, was er die Technik des Körpers nannte (Soziologie und Anthropologie, P.U.F., 1950, S. 363 ff.) und dabei versuchen, die Art und Weise zu beschreiben und zu vergleichen, wie die Leute essen, schlafen, sich waschen, sich bestimmter Werkzeuge bedienen (so gab man zum Beispiel im Krieg 1914–18 den englischen Soldaten französische Spaten, deren sie sich nicht zu bedienen wussten, weshalb die Intendantur gezwungen war, jedes Mal, wenn eine Division aus dem einen Land an die Front geschickt wurde, um eine Division des anderen Landes abzulösen, 8.000 französische Spaten durch 8.000 englische Spaten zu ersetzen, und umgekehrt), gehen, tanzen, springen.


Ich habe leider keine Zeit gehabt, genügend Informationen zusammenzutragen, damit eine solche Untersuchung sich als stichhaltig und effizient erweist. Ich hätte mindestens einige Tage in Gesellschaft eines Brillenträgers leben und sorgfältig aufschreiben müssen, was er alles mit seiner Brille tut. Ich kann hier bestenfalls einige elementare und banale Betrachtungen anbieten.

Gebrauchseigenheiten: Manche tragen ihre Brille von morgens bis abends, andere nur bei ganz bestimmten Gelegenheiten, zum Fahren etwa oder zum Lesen. Einer meiner Freunde hatte im Verlaufe eines Aufenthalts in Venedig festgestellt, dass er bei der Besichtigung der Kirchen das Kleingeschriebene in seinem Reiseführer nicht lesen konnte, weshalb er sich eine Halbbrille hat machen lassen, deren Gläser ihm die Möglichkeit geben, zu lesen, wenn er nach unten schaut, und die Bilder zu betrachten, wenn er hochschaut.

Platz der Brille: Manche Personen behalten ihre Brille selbst dann bei sich, wenn sie sie nicht tragen; sie schieben sie auf die Stirn oder rundweg ins Haar; andere, die sicherlich ständig Angst haben, sie zu verlieren, lassen sie an einem Kettchen um den Hals hängen; wieder andere legen sie sorgfältig in ein eigens diesem Zweck dienendes Etui; es gibt auch welche, die zwei Brillen brauchen, eine, um weit zu sehen, und eine, um nah zu sehen, und die ihre Zeit damit verbringen, sie zu wechseln; andere scheinen ständig vergessen zu haben, wo sie sie hingelegt haben, so dass sie im Haus herumlaufen und rufen: »Wo ist meine Brille?«; wieder andere legen sie immer genau an den gleichen Platz, in eine Schublade der Kommode, auf die Ablage des Waschbeckens oder neben das Fernsehgerät.

Reinigen der Brille: Ich besitze wenig Kenntnisse über diese Frage; ich weiß, dass es ein Spezialtuch gibt, das manche Optiker ihren Kunden beim Kauf einer Brille oder auch nur eines Brillengestells schenken. Viele Leute hingegen scheinen das zu nehmen, was ihnen gerade in die Finger kommt, wenn sie merken, dass ihre Brille geputzt werden muss: Taschentuch, ­»Kleenex«, Serviette, die Ecke eines Tischtuchs u.a.

Bewegungen mit der Brille: Da es von einer Brille heißt, dass sie ihrem Träger ein strenges Aussehen verleiht, nehmen manche Personen sie zum Zeichen ihres Wohlwollens ab; ich erinnere mich an Prüfer, die das taten, um ihre Kandidaten zu beruhigen, die der Gedanke, über die englischen Landwirtschaftsbetriebe oder über die Kolonisierung Dahomeys (durch General Dodds) reden zu müssen, in Angst und Schrecken versetzte; sich mit seiner Brille die Stirn zu reiben oder in die Bügel zu beißen sind Zeichen intensiven Nachdenkens.


Über die Mode. Die meisten Gegenstände und Zubehöre des täglichen Lebens eignen sich dazu, durch die berühmte Signatur – auch »Klaue« genannt – eines großen Couturiers gekennzeichnet, aus der Masse herausgehoben und überbewertet zu werden.


Die Brillen sind dieser Luxusverkleidung, deren Zweck mir immer verborgen bleibt, ebenso wenig entgangen wie die Füllhalter, die Feuerzeuge, die Handtaschen, die Reisetaschen, die Schlüsselbunde, die Schuhe, die Handschuhe, die Zigarettenetuis, die Krawatten, die Armbanduhren, die Manschettenknöpfe usw.


Über die Werbung. Früher pries die Werbung die Vorzüge der Gläser: Die Brillen waren dazu gemacht, dass man besser sehen konnte. Ich erinnere mich an die drei letzten Verse eines Werbevierzeilers, von dem ich den Eindruck habe, dass ich ihn jahrelang im Schaufenster eines Optikers in der Rue de Passy gesehen habe: Das Bild stellte eine lächelnde alte Dame dar und der Text sagte:


Auf ihrer Stirn die Falten, sie gruben tief sich ein.


Doch ihre Augen sind vorm Alter gut geschützt


Dank unsrer Gläser und der Brille SONNENSCHEIN!


Ich erinnere mich auch an ein Plakat, auf dem man ein Frauen­gesicht sah, das unter einem beeindruckenden Helm hervorschaute, der für die Prüfung ihrer Sehkraft bestimmt war (und auch, eine unheimliche Erinnerung, an den Werbespruch eines berühmten Optikers, der mitten in der Besatzungszeit ausdrücklich darauf hinwies, dass sein Name, trotz gewisser Konsonanten, nicht das Geringste mit einem jüdischen Namen zu tun habe).


Heute sind die Brillen, in den Worten der Mode und des Marktes, weniger dazu gemacht, besser sehen zu können, als getragen zu werden, und die Werbung spricht vor allem von Brillengestellen. Es ist eine Werbung, die gern mit den Wörtern spielt; zum Beispiel: »Nennen Sie einen Preis, nur um zu sehen« oder »Bei diesen Preisen machen Sie große Augen« (es handelt sich um Brillengestelle, die von »Außenseitern«, wie sie von den Profis der Optikerzunft genannt werden, zum halben Preis verkauft werden).


Über die Sprache. Während die Sprache des Sehens von einer kaum zu überbietenden Fülle ist (schwarzsehen, rot sehen, etwas eng sehen, sich satt sehen, die Hand nicht vor Augen sehen, das Ende des Tunnels sehen, nur seinen Vorteil sehen, sich nicht in der Lage sehen, die Dinge im richtigen Zusammenhang sehen, sehen, was sich tun lässt, sehen, wo man bleibt, nicht auf den Preis sehen, große Augen machen, mit den Augen zwinkern usw.), sind die auf Brillen begründeten Metaphern, Ausdrücke und Sprichwörter äußerst selten und darüber hinaus auch noch außer Gebrauch gekommen. Sagt man heute noch »eine Nase um eine Brille zu tragen« für »eine große Nase«? »Seine Brille besser aufsetzen« (Regnard) oder »seine Brille besser tragen« (Sévigné) bedeutete »besser aufpassen«, aber ich glaube nicht, dass diese Ausdrücke heute noch gebraucht werden. Saint-­Simon benutzte einmal den Ausdruck »eine Brille aufsetzen«, um damit zu sagen »sich streng zeigen« und Molière »sie ist für Augen, die eine Brille tragen« statt »sie mag nur Intellektuelle«, aber diese Bilder sind nicht wirklich volkstümlich geworden. Was die Sprichwörter »Jeder sieht mit seiner Brille« (jeder sieht eine Sache von seinem eigenen Standpunkt aus) und »Guten Tag Brille, Adieu Pille«, (was Lachatre übersetzt mit »Kommt das Alter dann der Brille, ists vorbei mit kille-kille«) angeht, so glaube ich nicht, dass sie heute noch anderswo zu finden sind als in alten Wörterbüchern und Almanachen, wo ich sie gefunden habe.


Anstelle einer Schlussfolgerung. Es gibt eine gewisse Anzahl von Dingen, von denen ich weiß, dass ich sie in Zukunft sicherlich nicht mehr tun werde. Es ist unendlich unwahrscheinlich, dass ich eines Tages auf den Mond fliegen werde, dass ich eine Reise mit dem Unterseeboot unternehmen werde oder dass ich Chinesisch, Saxophon spielen oder Ergodik lernen werde, selbst wenn ich manchmal große Lust dazu habe. Es ist auch höchst unwahrscheinlich, dass ich ein junger, aktiver Offizier werde, Hafenarbeiter in Valparaiso, Prokurist eines großen ­Bankhauses, Inhaber eines Tabakwarengeschäfts, Landwirt oder Präsident der Republik.


Hingegen ist es ziemlich sicher, dass ich eines Tages, wie allem Anschein nach ein Drittel aller Franzosen, eine Brille tragen werde. Mein Ziliarmuskel, der die Krümmungsveränderung der Augenlinse steuert, wird nach und nach seine Elastizität verlieren und meine Augen werden von da an nicht mehr anpassungsfähig sein. Es heißt, dass dieser Fall bei allen Erwachsenen ab 45 Jahren eintritt, und ich bin 44 einhalb Jahre alt …


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Georges Perec

Georges Perec

war einer der wichtigsten Vertreter der französischen Nachkriegsliteratur und Filmemacher. Als Sohn polnischer Juden musste Perec als Kind die deutsche Besetzung Frankreichs miterleben. Sein Vater fiel 1940 als Freiwilliger in der französischen Armee, seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt. Kurz vor ihrer Verhaftung konnte sie ihren Sohn mit einem Zug des Roten Kreuzes aufs Land schicken und ihm so das Leben retten. 1967 trat Perec der literarischen Bewegung Oulipo bei, die Raymond Queneau ins Leben gerufen hatte. Das Kürzel Oulipo steht für »L' Ouvroir de Littérature Potentielle«, d.h. »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Die Schriftsteller von Oulipo, die aus dem »Collège de Pataphysique«, surrealistischen Gruppierungen oder dem Kollektiv »Nicolas Bourbaki« stammten, erlegten ihren Werken bestimmte literarische oder mathematische Zwänge auf, etwa den Verzicht auf bestimmte Buchstaben. Perecs Werk »Anton Voyls Fortgang« kommt so ganz und gar ohne den Buchstaben E aus. In den 70er Jahren begann Perec ebenfalls mit Erfolg Filme zu drehen. Kurz vor seinem 46. Geburtstag starb Georges Perec an Lungenkrebs.

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Georges Perec

Denken/Ordnen

Übersetzt von Eugen Helmlé

Broschur, 168 Seiten

ePub

In »Denken/Ordnen«, seinem letzten Buch, forscht Georges Perec den kleinen Privat-Bürokratien nach, die jeder Einzelne entwickelt, um die Dinge der Welt zu versammeln, zu zerlegen und zum Verschwinden zu bringen: Anleitungen, Übungen, Listen, Methoden; seitenweise Kochrezepte (aber nur für Seezunge, Kalbsbries und Kaninchen!), verschiedene Arten, ein Bücherregal zu ordnen; Überlegungen über die Unmöglichkeit des Aufräumens und über die verschiedenen Arten körperlichen Aufenthalts beim Lesen (auf der Toilette, auf Reisen, beim Essen, im Bett …) – und nicht zuletzt einige Seiten wunderbare Betrachtungen über Brillen, die für jeden, der selbst davon betroffen ist, fortan unerlässlich sein werden. Und das alles ist, wie stets bei Perec, nicht nur ungeheuer anregend, sondern zutiefst komisch und traurig zugleich.