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Stefan Willer: »Kein bestimmtes Beispiel«
»Kein bestimmtes Beispiel«
(S. 67 – 96)

Stefan Willer

»Kein bestimmtes Beispiel«
Rhetorik, Dialektik und Hermeneutik des Exemplarischen bei Schleiermacher

PDF, 30 Seiten

Auf ein Beispiel zu verzichten, kann eine souveräne Entscheidung sein. Friedrich Schleiermachers Über die Religion (1800) steht in diesem Spannungsfeld von Exemplarität und Autorisierung. Religiöse Rhetorik hat es vornehmlich mit der Legitimation von Nachfolgern zu tun. Das Beispiel muss stets ein Vorbild in Szene setzen, das nachgeahmt oder dem nachgefolgt werden soll. Schleiermacher ergänzt das Nachfolgekonzept der imitatio christi – ein Vorbild für potentiell unendliche Nachfolger –, durch ein Parallelmodell. Um dieses Programm zu rechtfertigen, führt er zunächst Spinoza als singuläres Beispiel für den religiösen Philosophen ein, um ihn später mit Novalis zu kontrastieren, der ein ebensolches Beispiel für den frommen Künstler abgeben soll. In dieser Parallele entsteht eine Ähnlichkeit, die nicht mehr einem strengen Gattungsgesetz, sondern nur noch dem common sense unterworfen ist. Die Rhetorik von Schleiermachers Beispielgebrauch zeigt sich in der Durchstreichung des Beispiels als eines einfach vorliegenden oder belegbaren Faktums und der Affirmation einer unbestimmten Ähnlichkeit im Bezug zum Adressaten. Vielleicht zählt diese Operation zu den Ursprüngen rezeptionsästhetischen Denkens?

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Stefan Willer

ist seit 2010 stellvertretender Direktor des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Außerdem ist er Privatdozent am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der TU Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart; historische Wissensordnungen; Theorie, Rhetorik und Geschichte der Prognostik; kulturelle Konzepte von Generation und Erbe; Praktiken der Philologie.

Weitere Texte von Stefan Willer bei DIAPHANES
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Beispiele zu geben ist eine fundamentale und unverzichtbare Praxis wissenschaftlicher Diskurse. Höchst unklar aber ist ihr theoretischer Status: In Hinblick auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten, Begriffe und Sachverhalte scheint das Beispiel sekundär und austauschbar zu sein. Andererseits kann ein ›schlagendes‹ Beispiel ganze Argumentationen zu Fall bringen. Es ist Moment einer Praxis, die ihrerseits zu vertraut und zu verstreut ist, um selbst auf den Begriff gebracht werden zu können. Wissenschaft und Philosophie sind weitgehend blind für ihren Beispielgebrauch geblieben. Erst in jüngster Zeit wird dem zeitgenössischen Denken deutlich, dass mit dem Beispiel etwas auf dem Spiel steht. Im Anschluss an diese Erkenntnis fragen hier Forscher unterschiedlicher Disziplinen, jeweils von einem Beispiel ausgehend, ob und wie eine Diskursanalyse und damit eine Wissenschaft des Beispiels möglich ist. Es handelt sich um Vorarbeiten und Überlegungen zur Datenbank ›Archiv des Beispiels‹, die der systematischen Erfassung und Erforschung aller Beispiele dient.

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