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Claas Morgenroth: 1974
1974
(S. 169 – 180)

Gedichte sind momentane Fantasien

Claas Morgenroth

1974
Rolf Dieter Brinkmann. »Improvisation 1, 2 & 3 (u.a. nach Han Shan)«

PDF, 12 Seiten

Das Unvorhergesehene kommt nicht ohne das Vorhersehbare aus. Die Herausforderung der Improvisation liegt also darin, die Techniken und Verfahren der Abweichung so zu gestalten, dass sie sich selbst in den Rücken fallen. Nun dringt die Improvisation zugleich darauf, etwas hervorzubringen, weshalb ihr ein natürliches Produktionsdogma zugrunde liegt. Vor diesem Hintergrund kokettiert Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht »Improvisation 1, 2 & 3 (u.a. nach Han Shan)« mit der Unterlassung, der Kontemplation und Passivität. Ziel ist, die Dinge sprechen zu lassen und nicht die improvisierende Kunstfertigkeit. Brinkmanns Improvisation wendet sich auf diese Weise gegen die Überproduktion und den Überfluss der westlichen Industriegesellschaft und stellt an die Stelle der transitiven Aufmerksamkeit und Wachsamkeit die intransitive Gleichgültigkeit.

1974
Rolf Dieter Brinkmann
»Improvisation 1, 2 & 3 (u.a. nach Han Shan)«


»Gedichte sind momentane Fantasien und folge ich den Wörtern, in welche Bereiche gelange ich zurück? Verfaulte Wörterbücher, verfaulte Bibliotheken, ein gespensterhafter Sinn, der ganz leer ist und herumgeistert. […] [D]ie Rückbezüge müssen aufhören, und das heißt, die Verklammerung von Dingen und Menschen.« (Brinkmann 2005a, 256)

Rolf Dieter Brinkmanns »Unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten«, 1974 für den Gedichtband Westwärts 1 & 2 (1975/2005) verfasst, gehört zu den radikalsten Selbstauskünften der Literaturgeschichte. Aus Platzmangel konnte es in der Erstausgabe nicht erscheinen und liegt erst seit der zweiten Ausgabe vollständig vor (→ einführend Jacob 2012). Auf 74 Druckseiten ohne Absatz beschreibt Brinkmann sein poetisches Grundproblem, die Kontamination der Sprache durch Sinn und Geschichte und die omnipräsente Gewalt der Zeichen, die dem Körper das Leben, die Erfahrung und die Liebe rauben. Im Vordergrund steht die Überzeugung, dass der Anspruch der Moderne, den Menschen aus der selbst verschuldeten Entfremdung und den gesellschaftlichen Widersprüchen herauszuführen, nur im Rücken der Sprache gelingen kann. »(Widersprüche gibts nur in der Sprache. F.M.)« (Brinkmann 2005a, 328; → Mauthner 1969, 205; → Mauthner 1923, 48). Wer Brinkmanns Materialbände der frühen siebziger Jahre durchsieht (→ z.B. Brinkmann 1979), der bekommt einen Eindruck davon, wie weit sich Brinkmann mit Fritz Mauthners Position identifizierte. Dort findet sich eine schier endlose Litanei über die zerstörende Kraft der Wörter und die Macht der sprachlichen Konventionen, selten unterbrochen durch Evokationen der Stille und Erfahrung. Nun gehört Brinkmanns Produktionsregel, der verachteten Sprache wieder nur mit Sprache zu begegnen, zu den Paradoxien der literarischen Moderne. Dieses zunächst einmal po(i)etische Problem wird unter der Hand zu einem biopoetischen, weil sich die Einheit von Kunst und Leben – eine von Brinkmanns Grundüberzeugungen – als falsch erweist (→ Brinkmann 1974). Westwärts 1 & 2 setzt darunter einen Schlusspunkt und gibt dem über Jahre mühsam entwickelten Verfahren improvisierenden Schreibens ein erkennbares Gesicht. Mit seinem letzten Gedichtband hat Brinkmann eine Schreibpraxis gefunden, die dem avisierten Ideal einer neuen, situativen, lebendigen und voraussetzungslosen Sprache nahe kommt. Die Improvisation soll den erhofften Ausgang aus dem großen Ganzen der Gesellschaft, aber auch aus dem selbst auferlegten Produktionszwang ermöglichen, der das »unkontrollierte Nachwort« dominiert.

»Improvisation 1, 2 & 3 (u.a. nach Han Shan)«, 1974 geschrieben, 1975 veröffentlicht, liefert das entsprechende Programm (→ Brinkmann 2005a, 31–32). Brinkmann bezieht sich auf Han Shans 150 Gedichte vom kalten Berg (→ Han Shan 1974), in denen er zentrale Probleme seiner Poetik gelöst sieht. »Niemand weiß, woher Han Shan kam« – gleich der erste Satz des Gedichtes, zitiert aus der Einleitung des Übersetzers Stephan Schumacher bzw. dem chinesischen Vorwort Lü Ch’iu Yins (→ Han Shan 1974, 5 und 19), setzt auf das Vergessen als Voraussetzung des Neuen. Die nachfolgenden Zeilen verweisen einmal auf die Quelle des Zitats (»Er stieg aus der Ebene auf den Kalten Berg«), dann auf die stilbildende Einfachheit der Gedichte (»die Überschriften fehlten, keine Nummerierung«), die sich mit Brinkmanns poetischen Idealen deckt: »Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus« (Brinkmann 2005a, 9 [11./12.7.1974]). Aufgabe ist, der Erfahrung ohne Begriffe und überkommene Ordnungsmuster Ausdruck zu verleihen. Die Zeile »die Erklärungen, ›Fußnoten‹, folgten später, erklärten nichts« bezieht sich auf die deutsche Ausgabe, für die Schumacher die ursprünglich ungeordneten Texte in eine chronologische Reihenfolge gebracht und mit Anmerkungen versehen hat, sie weist aber auch die an vielen anderen Stellen beklagte Erklärungssucht der Philologie und sprachliche Zweitsysteme zurück, die dem Ereignis des Lesens und Schreibens durch Fußnoten und andere Formen der Kontextualisierung beikommen wollen.

»(Und keineswegs vergesse ich den Jazz). Jede dieser Ausdrucksformen hat auf die Oberfläche der Welt hingewiesen, keineswegs aber auf Theorien, und es ist längst Zeit, daß germanistische Seminare dies wenigstens begreifen, falls in viehlologischen Seminaren überhaupt etwas zu lernen ist, außer Fußnoten und Zitatnachweistechniken (:dieses zerfallende, bröselnde, bosselnde Europa, verängstigte Menschen, Archivare, Familienalben, Kinderzähne als Erinnerungsstücke, gierige Viehlologie, gierig nach neuen Theorien, neuem Wortschatz […])« (Brinkmann 2005a, 287).

Brinkmanns Ausdrucksmedium ist die Metapher des Weißen (»er saß und sah auf den Schnee«), sein Handlungsideal die Simplizität der alltäglichen Verrichtungen (»als er das Zimmer ausfegte, war er zufrieden«). Beide Aspekte tauchen sowohl in Brinkmanns frühen Gedichten als auch in seiner Popästhetik Ende der 60er Jahre und in den Schriften der 70er Jahre auf. Hier steht das Weiße für die produktive Attraktivität des unbeschriebenen Blatts (→ zu dieser Tradition Müller 2012, 126–131). »Die Fragen machen weiter, während man, plötzlich, ins Zimmer gekommen, auf einen leeren Tisch blickt und staunt. Auf der leeren Fläche des Tisches, der weitermacht, schreibt man gut ein Gedicht, das Blatt Papier, weiß und leer, macht weiter wie das Tageslicht.« (Brinkmann 2005a, 329; → Späth 1989 und Morgenroth 2012) Die Leere des Papiers verbindet Brinkmann poetisch und typographisch mit dem ›Offenen‹ (Brinkmann 1999, 140–141 [23.12.1974] und 263 [21.3.1975]), dem im Gedicht die Zeilen »Vergessen der Erinnerungen, was eine Leistung ist« und »Kalligraphien in der Kälte, weiß« entsprechen. »Die Lücken, der Raum oft um die Sätze des Gedichtes soll eigentlich nur verdeutlichen, daß um jedes Bild, jede Zeile, ein Umweltfeld gehört, das jeder für sich ergänzen kann.« (Brinkmann 1999, 191 [11.2.1975])

Der zweite Teil oder die zweite Improvisation des Gedichts beginnt mit einem Geräusch: »Klack, klack: die Gesellschaft / […] es ist dasselbe / unendliche Geräusch, / das die Welt erfüllt, überall, wo du bist.« Das Ephemere der Bewegung ist immer da, um sich – als akustisches Phänomen – wieder zu verlieren. Gegenüber dem Allgemeinen (der Gesellschaft), aus dem es hervorgeht, und dem Notierten, das Wiederholbarkeit verspricht, gehört es zur Welt der Einzelphänomene, die unversehens auftauchen, wahrgenommen werden und wieder verschwinden. »›plötzlich‹ / als du die Kurve nahmst, / aus der Stadt herausfuhrst, / nachts auf der Autobahn, / und die Lichterketten zu Ende waren, hast du’s gewusst, // klack, klack (wie Chachacha) // die Wirkung. Und wirklich / ist schwierig, das nicht länger anzusehen, / sondern einzelnes.« Drei, zum Teil leicht abgeänderte Han Shan-Zitate, in Klammern gesetzt, begleiten die Improvisation. Sie betonen Han Shans Außenseiterrolle – »(›alle gaffen / mich an, seit ich den / Weg verlor‹)« – und die erwünschte Einfachheit der Erfahrung: »(›gibts was zu / freuen, freue dich / daran‹)«, »wenn erst / Unkraut durch den / Schädel sprießt / etc.«, ist es zu spät, um sich »den Bauch voll [zu] schlagen.« (Han Shan 1974, 63, 39 und 40)

Die dritte Improvisation schließlich, ein Lied in fünf Strophen à je drei Zeilen, zieht die Versenkungslehre des Han Shan mit Brinkmanns Poesie der Einfachheit zusammen, indem sie zwei Schreibästhetiken verbindet, die des Songs und die der Kalligraphie.

»Ein Lied zu singen / mit nichts als der Absicht, / ein Lied zu singen, // ist eine schwere Arbeit, / wie vor dem Schnee bedeckten / Berg zu sitzen, // ihn jahrelang, ohne / Ablenkung, anzuschauen und / dann, eines Tages, // mit einem einzigen / Strich weißer Tusche / auf das weiße Papier // zu setzen, daß jeder / sieht der Berg ist / absolut leer.«

Auch wenn sich Brinkmanns Kenntnis des Zen-Buddhismus auf Zweitlektüren beschränkt, lassen sich die drei Improvisationen des Gedichts auf die in der Einleitung Stephan Schumachers erläuterten »Grundbegriffe des Taoismus« beziehen, »Weg und Tugend (Tao und Te)« sowie »sitzen« (→ Han Shan 1974, 15). Kurz gesagt: Der Weg der Improvisation führt über die Station des Vergessens zur Selbstvergessenheit der einfachen, dinghaften Handlung. Deren Tugend liegt im Betrachten des Einzelnen, während das Sitzen als solches – ob nun vor dem kalten Berg, vor dem Kalten Berg oder vor dem weißen Blatt Papier – für den Modus des Lesens und Schreibens steht. In den Briefen an Hartmut [Schnell], den Freund aus Austiner Tagen, erklärt Brinkmann die Zeilen so:

»Auch die Anstrengung, in Teil 3 des Gedichts, über die Wörter, Sprache, die ja immer meistens nur wiederholt, also die Welt verdoppelt, indem man schreibt, was geschehen ist usw. meint kein Regress, also in einen dumpfen wortlosen Zustand zurückzufallen, sondern darüber hinweg zu kommen! Die Welt wahrzunehmen, ohne daß sie durch das Sprachverständnis immer schon, wenn man wahrnimmt und Leben erfährt, strukturiert und verständnisvoll erscheint.« (Brinkmann 1999, 266 [21.3.1975])

Liest man Brinkmanns Gedicht wie eine Improvisationsformel, dann bedarf das Unvorhergesehene einer ausdauernden und offensichtlich mühsamen Reinigung und Klärung des Subjekts von den Zwängen der Sprache. Erst dann öffnet sich die Welt als solche. Erst dann kehrt die menschliche Erfahrung zurück zu ihrem Ursprung, dem ›Leben‹. Brinkmann wiederholt damit zwar die um 1800 vorgetragene Kritik am System der Rhetorik, aber das kreative Subjekt ist an dieser Stelle keines, das erfindet, sondern eines, das findet. »Ist das neu? Nein, alles ist doch da!« (Brinkmann 2005a, 263) Die lexikalisierte Tradition der inventio führt hier nicht besonders weit (→ Till 2000b; → Kienpointner 1998); eine Versenkungslehre oder Ähnliches wird dort nicht aufgeführt. Brinkmanns Verknüpfung der Improvisation mit Han Shan ist also durchaus originell und steht in einer Tradition, die der Sinnverpflichtung der Schrift kritisch gegenübersteht. Roland Barthes, den Brinkmann schätzte (→ Brinkmann, Rygulla 1983, 419), hat diesen Umstand am Satori-Begriff so beschrieben:

»der Satori (das Zen-Erlebnis) ist ein mehr oder weniger starkes (durchaus nicht erhabenes) Erdbeben, das die Erkenntnis, das Subjekt ins Wanken bringt: er bewirkt eine Leere in der Sprache. Und eine solche Leere konstituiert auch die Schrift; von dieser Leere gehen die Züge aus, in denen der Zen in völliger Sinnbefreiung die Gärten, Gesten, Häuser, Blumengebinde, Gesichter und die Gewalt schreibt.« (Barthes 1981, 16;→ Kagel, Wallis 2008 respektive 2012, 540)

›Der Zen schreibt‹ – wie bei Barthes ist Brinkmanns Mittel der Befreiung das Schreiben, wortwörtlich das ›Schreiben des Schönen‹, über dessen situative, serielle, spontane, datierte und sprunghafte Techniken und Einfälle das »unkontrollierte Nachwort« ausführlich unterrichtet.

»Und neue Gedichte: aus Brieffetzen, Bruchstücken von Unterhaltungen, die ich hörte oder daran ich selber beteiligt gewesen, Lücken in den Gedichten, Sprünge, Gedichte ohne den Vorsatz, ein Gedicht zu schreiben, Gedichte ›ohne Motive‹, Augenblicksgedichte, ich setze mich hin, gehe von einem Eindruck aus, frage mich dann, wie weiter, lehne mich zurück, nächster Satz, verlorenes Erinnerungsbild, das vorbeizieht auf meinem Bewußtseinsbildschirm […], plötzliche Erleuchtungen, was immer das ist, neue Zeile […], Gespräche im Flur, Geräusche alltäglichen Lebens, während ich schreibe, Stockungen, neue Aufschwünge, zufällig gefundene Zitate« (Brinkmann 2005a, 312–313).

Wir treffen auf eine Technik des Leerschreibens, die im Vertrauen auf die Lücke versucht, möglichst vollständig die Bewegungen auf der Wahrnehmungsebene zu notieren. Auf der Suche nach dem Unvorhergesehenen, nach dem »richtigen Augenblick, kairos« (315) häuft sich der bereits angeführte Müll der »Ziviehlisation« (326) oder »Viehlologie« an: »der Rest ist wieder Viehlologie, das Absolute, das Unendliche zu fassen. Hat wer den schwarz verkohlten Ginster am Bahndamm gesehen?« (261) Diesen Müll gilt es loszuwerden, aufzuschreiben, als Material abzulegen, zu zerlegen, zu kombinieren (zu ›Müll‹ und Improvisation allgemein: → Bormann 2007), auch um sich selbst als unbeschriebenes Blatt neu zu entdecken.

Einer der Vordenker dieses Schreibverfahrens ist Ludwig Börne, der in seinem Essay »Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden« die wesentlichen Merkmale und Schritte des befreienden Schreibens bereits ironisiert hat: die angeborene Schönheit, die Subjektivität der Welt, den Zwang der gesellschaftlichen Ordnung, das Schreiben als Akt der Befreiung und Wahrheitsereignis, schließlich die Ekstase.

»Jedem menschlichen Geiste sind schöne Gedanken und, weil mit jedem Menschen die Welt neu geschaffen wird, auch neue angeboren; aber das Leben und der Unterricht schreiben ihre unnützen Sachen darauf und bedecken sie. […] Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht […] – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen.« (Börne 1964, 137–139)

Brinkmanns persönliches Unglück war, dass sich die drei Tage zu Jahren hinzogen. Im »unkontrollierten Nachwort« heißt es: »Weiter schreiben: Notizen, (und tatsächlich ist dieser Gedichtband mehr Notizbuch als Gedichtband).« (Brinkmann 2005a, 297) Zahllose Fragmente, Notizen und Aufzeichnungen bieten sich an, um das starre Formdenken zu überwinden. Das Material übernimmt die Regie. Der Einfall, der richtige Moment (kairos) und das Schöne (to kalon) tauchen erst auf, wenn das Denken ins Stolpern gerät. »Taumel, Clownerie, Wörter, Sätze […], Kairos, To Kalon, der Schnittpunkt: Lochkarten, Nervennetzentwürfe, Zeitschnittpunkte – die Slapsticks des Denkens« (325–326). Die Raserei wird zur Quelle der Inspiration (zu dieser Tradition: → Till 2000a, 150). Dem Unvorhergesehenen soll schließlich durch einen Kontrollverlust Platz geschaffen werden:

»Mit ihm ist der Gedanke einer radikalen Öffnung des Tuns verbunden, das sich auf Kontingenz und das Unvorhersehbare als Faktoren der Situation und der Ereignisse einlässt. Mit solcher ›Fahrlässigkeit‹ und Risiko-Bereitschaft ist ein Konzept des Handelns verknüpft, das seine Kompetenz nicht auf das planerische Verfertigen eines (künstlerischen) Produkts richtet, sondern auf die ›extempore‹-Performance eines unwiederholbaren Prozesses.« (Bormann, Brandstetter, Matzke 2010, 7)

Nun bedarf eine solche Fahrlässigkeit der Regelhaftigkeit, so wie das Unvorhergesehene des Vorhersehbaren bedarf. Die Herausforderung der Improvisation liegt darin, die Techniken und Verfahren der Abweichung so zu gestalten, dass sie sich selbst in den Rücken fallen. Dafür setzt Brinkmann auf den Augenblick, der nicht nur imperativisch oder anekdotisch aufgerufen, sondern auch datiert und räumlich situiert wird. »(Unterbrechung, 2ter Teil, 16.10.74: ›in hier diesen Städten‹, ›schlampige Todesbilder‹, ›was äh meinen Sie?‹« (Brinkmann 2005a, 308, Klammer geht auch bei Brinkmann nicht zu). Die Datierung rückt die Gelegenheit und Körperlichkeit des Schreibens in den Text (→ Campe 2004) und macht aus dem Schreiben eine unwiederholbare Aufführung. Der performative Charakter des Textes zeigt sich an den Beobachtungen, Geräuschen, Gerüchen, Einfällen usw., die vom jeweiligen Schreibplatz aus wie selbstverständlich in den Text eingehen.

»Ich schaue von den Tasten der Schreibmaschine auf […], vor mir, auf dem Schreibtisch hintereinander aufgereiht, zufällig, durcheinander Büchertitel […], The Poetry of the Blues, dazwischen Postkarten, Briefe, Fotos, und ich schaue durch die Wand, schreibe weiter auf der Schreibmaschine, Notizzettel auf dem Fußboden, Durchschläge auf dem Fußboden, vom Treppenhaus her das Geräusch des Hustens […], wie heißt die nächste Zeile in dem Gedicht, an dem ich gerade schreibe, weitere Aufschwünge, leerer Tisch, alles vergessen […], Stille, […], und ich mache weiter« (Brinkmann 2005a, 311–312).

Vielleicht sollte man an dieser Stelle von einer Musikalität des Augenblicks sprechen, um begreiflich zu machen, dass Metrum, Rhythmus und Phrasierung des Schreibens aus dem jeweiligen Schreibraum hervorgehen (→ nachzuhören in Brinkmann 2005b). Es gehört zu den Anekdoten der Musikgeschichte, dass zahlreiche Motive und Spielweisen des Jazz auf das Gemurmel des Alltags, auf kommunikative Zusammenstöße, Zurufe, Großstadtkrach und andere Formen des ungesteuerten Sprechens und Hörens zurückgehen (→ Coolidge, Creeley, Lacy, Mackey 1991, 37; nachzuhören auf Street and Gangland Rhythms, Beats and Improvisations by Six Boys in Trouble, 1959). Einfälle dieser Art leben davon, den Findungsprozess unkalkuliert zu belassen oder sich dem Zufall der Situation anzuvertrauen. Brinkmanns Schreibordnung ist darauf ausgelegt, sich von ›Zurufen‹ dieser Art leiten zu lassen: »während ich schreibe, höre ich manchmal Platten, und dann beim Schreiben verbinden [!] sich das, was ich gerade schreibe, mit dem, was ich dazu höre und geben neue Assoziationen oder Spuren von Geschichten.« (Brinkmann 1999, 188–189 [11.2.1975]; zum kinematographischen Ursprung der ›sprunghaften‹ Situation: → Röhnert 2007) Es gilt, dem prätendierten Zusammenhang zu entgehen, der literarischen Form, der memoria: »Proust kotzt und hustet seine Erinnerungen in den Ausguß, zuviel süßes Gebäck« (Brinkmann 2005a, 316).

»Das unkontrollierte Nachwort« stellt allerdings nur eine faszinierend virtuose Durchgangsstation dar. Schließlich ist Brinkmanns poetisches Ziel, die Dinge sprechen zu lassen und nicht die improvisierende Kunstfertigkeit. Der Überbietungsstrategie des Einfalls und der Improvisation liegt ein gewissermaßen natürliches – und womöglich spezifisch westliches – Produktionsdogma zugrunde (»Weiter schreiben«). Die Improvisation dringt darauf, etwas hervorzubringen. Dafür bedarf es der Übung, des Trainings, der Eingebung und so fort. Gemessen wird die Improvisation am Vorgang des Hervorbringens und am Hervorgebrachten. Wie sollte es anders sein. Brinkmann aber kokettiert mit einer Praxis der Unterlassung, der Kontemplation und Passivität. Fluchtpunkt dieser Poesie ist die Stille und das weiße Blatt Papier. Damit steht die »Improvisation nach Han Shan« im Gegensatz zur sonst bevorzugten Schreibbewegung: »(Ich gehe von einem Satz zum nächsten, und oft weiß ich nicht, wie dann das Folgende ist), geh: Dichte! Vieh: Lologie?« (Brinkmann 2005a, 296), zum schreibenden Dauerlauf, in dessen Atempausen sich die erhofften Augenblicke, Situationen, Momente auftun sollen. Brinkmann entdeckt für sich die Stille des Augenblicks, das tibetanische Totenbuch (→ Brinkmann 1988), Zen (→ »Highkuh, West« in: Brinkmann 2005a, 36), dessen Lehre er auch in der Beat-Literatur, Konzeptkunst und Musik der 60er Jahre antreffen konnte. Das Haiku etwa verlangt kaum mehr als eine schöne, gelungene Beobachtung und befreit so vom Ballast der Literatur, von Gattungs- und Formzwängen. »Das Haiku ist […] der diametrale Gegensatz zur totalisierenden Verdichtung« (Barthes 2008, 68–69). Es richtet sich auf das Einzelne und die Einfachheit; es ist dem Leben zugewandt, dessen Schriftbild vom leeren Raum lebt. Luftigkeit und Unbestimmtheit gehören zu seinen Voraussetzungen; als typographische Einheit konstituiert es jenen Raum, der einen Einfall, einen Gedanken ermöglicht (→ ebd., 66–69).

Zu den wesentlichen Kennzeichen von Westwärts 1 & 2 gehört die variantenreiche Anordnung der Wörter auf dem Papier, die sich zum Teil explizit von der Linearität des Drucks absetzt, die Brinkmann selbst als spezifischen Denkzwang beschreibt – »von links nach rechts. So präsentiert sich das Land, der Sprachbereich, die Poesie kaum noch vorhanden« (Brinkmann 2005a, 299). Literaturgeschichtlich bemerkenswert ist, dass Brinkmanns typographisches Ideal nicht nur in der ›neuen‹ US-amerikanischen Literatur zu suchen ist (→ Brinkmann, Rygulla 1983), sondern auch im Haiku bzw. bei Han Shan (der wiederum die amerikanische Szene beeinflusst hat: → Kagel, Wallis 2012; → Kern 1996; zur Verbindung von Zen, Musik und Poesie → auch Coolidge, Creeley, Lacy, Mackey 1991). Die unbeschriebene weiße Fläche des Papiers ist nicht nur die Bedingung des Einfalls, sondern kann diesen Umstand auch als beschriebene beibehalten – sofern die Anordnung der Wörter und Zeichen diesen Zusammenhang einbezieht und darstellt (zur Poetik der Typographie allgemein → Wehde 2000). Die Buchstaben verlieren ihren referentiellen Charakter und verwandeln sich in Dinge. Als solche tauchen sie auf dem Blatt auf, als solche können sie bewegt und im Raum verteilt werden.

Wir haben es also mit zwei grundverschiedenen, gleichwohl aufeinander angewiesenen Positionen zum Begriff des Einfalls und der Improvisation zu tun. Denn die dem Zen-Buddhismus abgeschaute Ruhe des Schreibens in »Improvisation 1, 2 & 3 (u.a. Han Shan)« steht im Gegensatz zur Vielschreiberei, zur »Clownerie« und zum »Taumel« des »unkontrollierten Nachworts«, dessen Ökonomie die Überproduktion und den Überfluss der westlichen Industriegesellschaft kopiert. Die Lehre des Han Shan dagegen setzt auf einen Prozess der Dematerialisierung. An die Stelle der transitiven Aufmerksamkeit und Wachsamkeit, deren ökonomisches Negativ die Selbstausbeutung und -erschöpfung ist, tritt die intransitive Gleichgültigkeit. Nun kann jede Aktivität passiv sein, wenn sie sich im Empfangen und Wiederholen des schon Gesagten erschöpft (Brinkmanns biopoetisches Problem). Und aus jeder Passivität kann ›wirkliche‹ Aktivität werden, wenn sie zur Bedingung des Unvorhergesehenen wird (→ Lagaay 2011). An diesem heiklen Punkt improvisatorischer Praxis entsteht Brinkmanns späte Poetik der Intensität zwischen Taumel und Stille. Das Nichtstun aber ist in der modernen Waren- und Konsumlandschaft sowie im Ordnungsverlangen der Begriffssprache nicht vorhergesehen.


Literatur

— Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen (frz. 1970), übers. von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 1981.

— Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 19781979 und 19791980 (frz. 2003), hg. von Éric Marty, Texterstellung, Anmerkungen und Vorwort von Nathalie Léger, übers. von Horst Brühmann, Frankfurt am Main 2008.

— Börne, Ludwig: »Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden« (1823), in: Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Hg.): Börnes Werke in zwei Bänden, Bd. 1: Dramaturgische Blätter. Erzählungen – Vermischte Aufsätze. Schilderungen aus Paris, Berlin, Weimar 1964, S. 137–139.

— Bormann, Hans-Friedrich: »›Improv is still rubbish.‹ Strategien und Aporien der Improvisation«, in: Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi und Kai van Eikels (Hg.): Schwarm(E) Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg im Breisgau 2007, S. 125–146.

— Bormann, Hans-Friedrich, Gabriele Brandstetter und Annemarie Matzke: »Improvisieren: Eine Eröffnung«, in: dies.: (Hg.): Improvisieren: Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld 2010, S. 7–19.

— Brinkmann, Rolf Dieter: Die Wörter sind böse. Kölner Autorenalltag 1973, Regie: Hein Brühl, WDR, Köln 1974 [Hörspiel].

— Brinkmann, Rolf Dieter: Rom, Blicke, Reinbek bei Hamburg 1979.

— Brinkmann, Rolf Dieter: Schnitte [Totenbuch], Reinbek bei Hamburg 1988.

— Brinkmann, Rolf Dieter: Briefe an Hartmut. 19741975, Reinbek bei Hamburg 1999.

— Brinkmann, Rolf Dieter: Westwärts 1 & 2. Gedichte (1975), mit Fotos und Anmerkungen des Autors, erweiterte Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 2005[a].

— Brinkmann, Rolf Dieter: Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973, hg. von Herbert Kapfer und Katharina Agathos, 5 CDs, Erding 2005[b].

— Brinkmann, Rolf Dieter und Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene (1969), Reinbek bei Hamburg 1983.

— Campe, Rüdiger: »Das datierte Gedicht. Gelegenheiten des Schreibens in der Lyrik der Frühmoderne«, in: Martin Stingelin (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004, S. 54–69.

— Coolidge, Clark, Robert Creeley, Steve Lacy und Nathaniel Mackey, Panel:
Poetry and Jazz, 12. Juli 1991, Jack Kerouac School of Disembodied Poetics, http://archive.org/details/Clark_Coolidge__Robert_Creeley_and_Steve_91P067 (aufgerufen: 22.4.2014).

— Fricke, Harald u.a. (Hg): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2: HO, Berlin und New York 2000.

— Han Shan: 150 Gedichte vom Kalten Berg, übers. von Stephan Schumacher, Düsseldorf und Köln 1974.

— Jacob, Joachim: »Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten«, in: Jan Röhnert und Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen, Berlin und Boston 2012, Bd. 2, S. 787–809.

— Kagel, Martin und Glenn Wallis: »Wer war Han Shan? Buddhistische Denkfiguren bei Rolf Dieter Brinkmann«, in: Karl-Eckhard Carius (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Schnitte im Atemschutz, München 2008, S. 132–141.

— Kagel, Martin und Glenn Wallis: »Improvisation 1, 2 & 3 (u.a. nach Han Shan)«, in: Jan Röhnert und Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen, Berlin und Boston 2012, Bd. 2, S. 534–540.

— Kern, Robert: Orientalism, modernism, and the american poem, Cambridge und New York 1996.

— Kienpointner, Manfred: »Inventio«, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4: HuK, Tübingen 1998, S. 561–587.

— Lagaay, Alice: »Tun und lassen (II): Die Kunst der Passivität. Die Philosophin Alice Lagaay im Gespräch mit Svenja Flaßpöhler«, Deutschlandfunk, Essay und Diskurs, 26.12.2011.

— Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 2: Zur Sprachwissenschaft, Leipzig 31923.

— Mauthner, Fritz: Prager Jugendjahre. Erinnerungen, Frankfurt am Main 1969.

— Morgenroth, Claas: »Ein Abend«, in: Jan Röhnert und Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen, Berlin und Boston 2012, Bd. 2, S. 389–396.

— Müller, Lothar: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers, München 2012.

— Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder: Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann, Göttingen 2007.

— Röhnert, Jan und Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen, 2 Bde., Berlin und Boston 2012.

— Späth, Sybille: Rolf Dieter Brinkmann, Stuttgart 1989.

— [Various Artists] Street and Gangland Rhythms, Beats and Improvisations by Six Boys in Trouble, Folkways Records 1959.

— Till, Dietmar: »Inspiration«, in: Harald Fricke u.a. (Hg): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin und New York 2000[a], Bd. 2, S. 149–152.

— Till, Dietmar: »Inventio«, in: Harald Fricke u.a. (Hg): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin und New York 2000[b], Bd. 2, S. 180–183.

— Wehde, Susanne: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000.

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Sandro Zanetti (Hg.): Improvisation und Invention

Wenn eine Kultur etwas als Erfindung akzeptiert, dann hat dieses Etwas bereits den Status einer Tatsache erhalten, die vorhanden ist und auf ihren Nutzen oder auf ihre Funktion hin befragt werden kann. Was aber geschieht davor? Wie gewinnt das Erfundene Wirklichkeit? Wie in der Kunst, wie im Theater, wie in der Literatur und Musik, wie in der Wissenschaft? Und mit welchen Folgen? Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich alle mit einem Moment oder einem bestimmten Modell der Invention. Ausgehend von den jeweils involvierten Medien wird der Versuch unternommen, diese Momente und Modelle zu rekonstruieren. Um etwas über die entsprechenden Inventionen in Erfahrung bringen zu können, werden diese als Ergebnisse oder Effekte von Improvisationsprozessen begriffen: Improvisationen in dem Sinne, dass von einem grundsätzlich offenen Zukunftsspielraum ausgegangen wird, gleichzeitig aber auch davon, dass es ein Umgebungs- und Verfahrenswissen gibt, das im Einzelfall beschrieben werden kann.

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