Das Netz liegt im blinden Fleck der Bologna-Reformer (↑ Bologna-Prozess). Denn Bürokraten verwalten die Welt, wie sie ist, nicht wie sie wird. So kommt es, dass man an vielen Orten über die digitale Revolution und das Netz redet, wenn es um Fragen der Universität geht, in Europa aber über ↑ Module, Punktesysteme (↑ Leistungspunkte/ECTS) und Verwaltungs-Routinen.
Was macht die Universität mit dem Netz? Oder vielleicht doch eher anders herum gefragt: Was macht das Netz mit der Universität? Diese beiden Sätze fragen nicht nach Variationen desselben, sondern nach etwas ganz anderem.
Betrachten wir’s am Beispiel der Bibliothek, der anderen großen Institution der Bildung. Was macht die Bibliothek mit dem Netz? Sie stellt ihre Kataloge online. Sie führt Datenbanken. Sie lässt uns Bücher besser finden, schneller bestellen. Sie benachrichtigt Leser, wenn deren Leihfristen ablaufen. Sie organisiert ihren Betrieb besser, schneller und einfacher.
Aber was macht das Netz mit der Bibliothek? Es macht sie überflüssig. Denn wenn erst und endlich alle Bücher digitalisiert sind und Wissen, wie es sich für freie Wissenschaft gehört, frei zirkuliert, dann genügt eine einzige Bibliothek. All die übrigen können wir mittelfristig zumachen und umnutzen. Denn die eine Bibliothek braucht keine Mauern und keine Hallen mehr, es sei denn für ihre Server. Tatsächlich gibt es sie schon, die digitale Bibliothek, wenngleich nur in der sogenannten »Illegalität«. Denn die Verlage von gestern wollen ihr gutes Geschäft mit den Institutionen der Wissenschaft nicht aufgeben, sondern weiterhin teure Zeitschriften oder Journale drucken und Wissen zwischen Buchdeckeln verstecken, anstatt es ins Netz zu stellen. Nur deshalb haben wir noch Bibliotheken. Sie sollen das Wissen von uns fern halten. Der Teil der Welt, dem es zuerst gelingt, diese Schranken zu überwinden, wird die Wissenschaften des nächsten Jahrhunderts hervorbringen. So stehen die Chancen von China, sich mit einem Mal an der Spitze der Forschung wiederzufinden, gar nicht so schlecht.
Was aber macht das Netz mit den Universitäten? Das Muster der Bibliotheken lässt sich nicht ohne Weiteres auf die Institution der Universität übertragen. Fragen wir wieder von beiden Seiten her. Was macht die Universität mit dem Netz? Sie stellt Semesterpläne online. Sie verwaltet Seminare online (↑ Schalter). Vielleicht arbeiten hin und wieder Studenten in Wikis. Dozenten, Algorithmen und manchmal auch Studenten wachen darüber, dass Minister oder Studenten ihre Haus-, Magister-, und Doktorarbeiten nicht im Netz zusammengoogeln. Obgleich doch genau das die richtige Antwort auf ihre falsch gestellten Fragen wäre.
Aber was macht das Netz mit der Universität? Macht es sie überflüssig, wie die Bibliotheken? Könnten wir ganz einfach auf den ganzen Aufwand an Personal, auf die Rituale der Selbstverwaltung, auf die Seminarräume, die Streitereien der Fachbereiche (↑ Department), den altertümlichen Stolz auf Titel und andere Ehrbezeugungen und die kleinlichen Geschäfte der Gremien verzichten? Leider wohl nicht so schnell. Denn Texte lassen sich zwar digitalisieren, menschliche Aktivitäten wie lehren und forschen aber nicht (↑ Vorlesung2). Was nicht bedeutet, dass das Netz in der Universität alles beim Alten lässt.
Die Veränderungen zeigen sich in jedem einzelnen Bereich anders.
Bleibt ohne das Medium Buch das alte Wissen auch das neue Wissen?
Was heißt Wissen und Forschung?
Taugt die Aufteilung der Fächer noch?
Was tun Lehrer und Studenten?
Ohne auf all diese Fragen eine Antwort geben zu können, sei hier vorerst nur angedeutet, in welcher Hinsicht das Netz die Lage verändert.
Bleibt ohne das Medium Buch das alte Wissen auch das neue Wissen?
Ob das gedruckte Buch als Medium des Wissens verschwindet, wird zwar noch von vielen bezweifelt. Aber nehmen wir, um die Diskussion abzukürzen, einfach an, dass das der Fall sein wird. Dann, so könnte man meinen, werden die Texte im PDF-Format oder als E-Book gespeichert und alles bleibt beim Alten. Blicken wir jedoch zurück zum Anfang des Buchdrucks, so zeigt sich, dass das neue Medium das Wissen keineswegs unberührt gelassen hat. Wir können davon ausgehen, dass das im Netz nicht anders sein wird.
Das Netz lässt Texte anders zirkulieren. Wir haben nicht mehr nur den einen vervielfältigten Originaltext, zu dem Anmerkungen von Hand gemacht und Kommentare gelegentlich gedruckt werden. Stattdessen können sämtliche Operationen an Texten – also Kopieren, Ausschneiden, Einfügen, Verändern, Hinzufügen – auch unmittelbar zirkulieren.
Der Status eines Textes wird wesentlich dadurch bestimmt, welche Operationen ihm zugeordnet sind. Einen Beitrag bei Wikipedia kann jeder verändern. Einen Text, der einem Autor zugeordnet wird, kann man kommentieren. Und die Kommentare können sich auf die gleiche Art verbreiten wie der Text. Dann wäre Lesen nicht mehr die Tätigkeit des Einzelnen, sondern würde sich als kollektives Gewebe um die Texte spinnen.
Die Veränderungen betreffen die Funktion des Autors. Sie ist nicht notwendig, sondern wird von Disziplin zu Disziplin anders gesetzt. Während die Mathematik Sätze nach Regeln aneinander schließt, bevorzugen die Geisteswissenschaften die Zuschreibung zu einem Autor und produzieren, wenn man so will Autoritäres, indem sie es eben auf eine Autorität beziehen. Im Netz zeichnet sich eine andere Aufteilung ab. Während Blogs den Autor nennen, rückt Wikipedia ihn in den Hintergrund. Wissen, das aus dem Konsens lebt, kann auf Autorschaft verzichten. Wissen, das im Streit vorankommt, muss Autoren setzen.
Was heißt Wissen und Forschung?
In der Ordnung der Bibliothek sieht es so aus, als sei Wissen in der Menge der Bücher zu Hause. Und als liefe Forschung darauf hinaus, weitere hinzuzufügen.
Heute müssten wir eher davon ausgehen, dass Wissen nicht allein in den Aussagen, sondern eher in der richtigen Verbindung des Gesagten liegt. An die Stelle der Autoritäten treten dann die Verbindungen, so wie sie von der Gemeinschaft der Forschenden gelten (↑ Sammelband).
Eine andere bedeutsame Änderung könnte darin liegen, dass sich der Index der Zeit verliert, so wie es jetzt bereits die Suchergebnisse von Google vormachen. Anstatt einer Abfolge von Paradigmen hätten wir eine Parallelität von Verknüpfungen.
Taugt die Aufteilung der Fächer noch?
Viele unserer Fächer sind Gründungen des 19. Jahrhunderts. Das betrifft besonders die sogenannten Geisteswissenschaften. Sie verdanken sich einer Separation, die am Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Stichwort Ästhetik aufkam. Im Namen des Ästhetischen wurden Leser und Schreiber getrennt. Philologen lehrten von nun an nur noch das Lesen und nicht mehr, wie zuvor noch Rhetoriker, zu schreiben. Kunsthistoriker lernen nur noch sehen, nicht mehr zeichnen, Musikwissenschaftler nur noch hören, nicht musizieren. Das hat bis heute zur Folge, dass die Geisteswissenschaften sich am liebsten der Geschichte widmen und von der Gegenwart als Feld des Handelns gar nichts wissen wollen (↑ Machen).
Im Netz trifft diese Trennung auf eine Welt, in der die Grenze zwischen Leser und Schreiber, zwischen Produzent und Konsument gerade niedergerissen wird. Das wird auch an den Universitäten nicht lange auf sich warten lassen. Schon stehen andere Fakultäten bereit, Kunst, Design, Programmieren oder die Organisationswissenschaften, um die Lücke zwischen Handeln und Wissen zu schließen.
Aber es gibt noch andere offene Fragen, zum Beispiel bei der Aufteilung der Wissenschaften. Sie mag bei der Forschung nötig sein. In der Lehre hilft sie erst einmal wenig. Anstelle den Anfängern zu erlauben, sich ihr Wissen zu suchen, zwängt sie sie in das Korsett eines Fachs, das sie nur vom Hörensagen kennen (↑ Überschneidungsfreiheit). Es wäre ein Leichtes, hier Prozeduren zu installieren, die die Entscheidung für ein bestimmtes Fach nicht an den Anfang, sondern ans Ende des Studiums schieben. Im Lauf des Studiums stünde jeder und jedem Einzelnen frei, einen eigenen Weg durch das Wissen zu finden.
Was tun Lehrer und Studenten?
Wer lernen will, kann sich das geltende Wissen im Netz aneignen und online meistens bessere ↑ Vorlesungen finden als die, die Dozenten vor Ort halten. Um also die alte Ordnung aufrecht zu erhalten, ist es am besten, Studenten dazu zu erziehen, nicht lernen zu wollen. Darin liegt bisher der größte Erfolg der Bologna-Reform. Indem sie das Studium zu einem verordneten Leidensweg durch Prüfungen und Pflichtmodule (↑ Modul; ↑ Koordinator/in, gescheitert) macht, stärkt sie den natürlichen Widerwillen gegen das Gängelband der Universität. Gerade dieser Widerwille erlaubt es den Lehrern, ihre Autorität zu erhalten. Allerdings besteht ihre Funktion nicht länger darin, Wissen zu vermitteln. Sie sollen disziplinieren, Anwesenheit kontrollieren, Aufgaben verteilen und Abfragbares prüfen. Studenten werden darin geschult, Tests zu bestehen (↑ Klausur). Am Ende stecken sie voller nachprüfbarer Kenntnisse, haben aber leider keinerlei Idee, was sie damit anfangen wollen.
Worin besteht die Rolle des Lehrers, wenn das Netz als Quelle von Wissen ernst genommen wird? Anstatt den Studenten Wissen nach Plan aufzuschwatzen, müssten die studentischen Anliegen ernst genommen werden. Lehre oder besser Rat bräuchte es nur noch dann, wenn die Studenten nachfragen. Dann regiert nicht die Pflicht, zu lehren, sondern der Wunsch, zu lernen. Nicht mehr die Lehrenden, sondern die Lernenden wären die Hauptpersonen einer solchen Universität. Ganz so wie übrigens in Bologna im 11. Jahrhundert, wo die Universität von Studenten gegründet wurde und der Rektor immer ein Student war. Aber solche historischen Vorbilder unterschlagen die Bologna-Reformer lieber. Seitdem ein studentenzentriertes System an der Kunsthochschule Malmö – übrigens im Einklang mit den Vorgaben der Bologna-Reform – eingeführt wurde, hat es sich in ganz Skandinavien verbreitet. Der deutsche Lehrbetrieb ist davon noch gefühlte Jahrhunderte entfernt.
Ob die hiesige Universität überhaupt auf dem Weg der Reform die Herausforderungen des Netzes annehmen kann, steht in Zweifel. Seit man die Bologna-Reformen so deutsch und starr umgesetzt hat, dass die alte Verwaltungsherrschaft erhalten blieb und sich mit der neuen nur verzahnt hat, geht buchstäblich nichts mehr. Das Rad der Staats-Universität ist zum Stillstand gekommen. Vielleicht bleibt kein anderer Weg als der, im Netz eine neue Universität zu gründen.
arbeitet als Theoretiker und Essayist und forscht in Lüneburg zur Medientheorie des Netzes.
»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.
Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.