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Alexander Kluge, Joseph Vogl: Ein Labyrinth ohne Anfang und Ende
Ein Labyrinth ohne Anfang und Ende
(S. 309 – 320)

Was ist ein Rhizom?


Alexander Kluge, Joseph Vogl

Ein Labyrinth ohne Anfang und Ende

Aus: Soll und Haben. Fernsehgespräche, S. 309 – 320

Unterirdische Gangbauten des Denkens: 
das nennen Gilles Deleuze und Félix Guattari ein RHIZOM / 
Es geht um einen Schlüsselbegriff der modernen 
Philosophie / Er testet die Intelligenz im Finden 
unerwarteter Anfänge



Kluge: Was ist ein Rhizom?



Vogl: Zunächst ist ein Rhizom ein Labyrinth, ein unterirdischer Gangbau, der sich durch ein paar Elemente auszeichnet, die ihn von der abendländischen Geschichte des Labyrinths unterscheiden. Es ist ein Labyrinth ohne Anfang und Ende. Wenn es ein Labyrinth ohne Anfang und Ende ist, dann ist es zugleich ein Labyrinth ohne Ariadnefaden, also ohne Zentrum und Peripherie. Und dazu kommt ein drittes Merkmal, das ganz entscheidend ist für ein Rhizom: Es ist ein Gangbau, dessen Metrik, dessen metrische Ordnung so verwirrt ist, dass unklar ist, wie man von einem Element oder Ort des Labyrinths zu einem anderen kommen kann. Es ist ein System von Abkürzungen und Umwegen und kennt keinen geraden oder direkten oder richtigen Weg. Diese drei Elemente: ohne Anfang und Ende; ohne Ariadnefaden, also ohne Zentrum und Peripherie; und schließlich ein Gangsystem, das nur aus Abkürzungen und Umwegen besteht, würden ein Rhizom auszeichnen, welches deswegen der Ort für die unvorhergesehene Begegnung ist.


Kluge: Dies wäre dann für die Navigation in der Moderne nach G­uattari und Deleuze sozusagen die Herausforderung. 


Vogl: Genau. Das ist der Navigationsauftrag, und damit auch das Problem, das man durchaus ein modernes Problem nennen kann, nämlich in einem System von Kontingenzen, von kontingenten Ereignissen …


Kluge: Was ist kontingent?


Vogl: Kontingenz, kontingente Ereignisse, zufällige Ereignisse in diesem Sinne sind Ereignisse, die weder unmöglich noch notwendig sind und die – unvorsichtig gesagt – mit einer verminderten Kausalität geschehen. Ein kontingentes Ereignis geschieht, aber es ist nicht klar, wie man die Kausalität, wie man sich den Grund dieses Ereignisses zurecht legen soll. Das würde ich kontingent nennen.


Kluge: Haben Sie ein Beispiel?


Vogl: Ein Allerweltsbeispiel ist der Verkehrsunfall. Man stelle sich vor: hier eine Straße, dort eine Eisenbahnlinie, eine Ampel fällt aus, die Birne ist kaputt, und zwei Fahrzeuge stoßen auf der Kreuzung zusammen. Es gibt wenig zwingende Gründe, es hätte hundertfach verhindert, vermieden werden können, es musste nicht geschehen …


Kluge: Jeder einzelne Punkt in den Kausalketten hätte anders sein können, dann hätte der Unfall verhindert werden können. Aber dass die einzelnen Faktoren miteinander Beziehungen hätten, dass sie verwandt wären, dass sie von irgendjemandem geplant sein könnten, das ist nicht der Fall.


Vogl: Genau. Es gibt keine scharfe, keine direkte, keine notwendige Kausalität, die an dieses Ereignis heran führt. Die...

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Alexander Kluge

Alexander Kluge

ist promovierter Rechtsanwalt, Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller und Drehbuchautor. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt er für sein umfangreiches literarisches Werk 2003 den Georg-Büchner-Peis, für seine Kinofilme und Fernsehproduktionen 2008 den Ehrenpreis der Deutschen Filmakademie; sein Lebenswerk wurde mit dem Großen Bundesverdienstkreuz geehrt. Seit 1988 produziert Alexander Kluge unabhängige Kulturmagazine im deutschen Privatfernsehen: »›Fernsehen der Autoren‹ in homöopathischer Dosis«.

Weitere Texte von Alexander Kluge bei DIAPHANES
Joseph Vogl

Joseph Vogl

ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Mit »Das Gespenst des Kapitals« (2011) hat Joseph Vogl  »einen heimlichen Bestseller geschrieben, der weit über die Feuilletons Aufsehen erregte« (DER SPIEGEL).

Weitere Texte von Joseph Vogl bei DIAPHANES
Alexander Kluge, Joseph Vogl: Soll und Haben

Alexander Kluge, Joseph Vogl

Soll und Haben
Fernsehgespräche

Broschur, 336 Seiten

PDF, 336 Seiten

Das deutsche Privatfernsehen ist nicht eben bekannt für seine niveauvollen Diskussionsformate; umso überraschter hält der mitternächtliche Zapper inne, wenn auf einem der Kanäle Sätze fallen wie: »Ökonomischer Aberglaube ist so etwas wie das Spektrum bürgerlicher Tugenden« oder »Die Lösungen liegen immer auf der Straße, im Verkehr«. Er ist, unzweifelhaft, in eines der im wahrsten Sinne des Wortes merkwürdigen Kulturmagazine von Alexander Kluge geraten.

Alexander Kluge, der wohl eigensinnigste Autor, Filmemacher, Philosoph, Kulturtheoretiker, Regisseur, Medienpolitiker und Chronist Deutschlands, produziert seit 1988 unabhängige Kulturmagazine im deutschen Privatfernsehen. Seit 1994 ist der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl regelmäßiger Gast in seinen Sendungen. Alexander Kluges charakteristische Interviewtechnik hat in ihm ihr kongeniales Gegenüber gefunden. Ergebnis der beiderseitigen Passion sind über vierzig Fernsehinterviews, die eine eigene Kunst der zielführenden Abschweifung kultivieren und das Genre völlig neu erfinden.

Soll und Haben versammelt erstmals eine Auswahl dieser Gespräche in Buchform. Das thematische Spektrum reicht quer durch die Zeiten und Kulturen. Ob Vogl jedoch über Amoklauf spricht, über Kapitalismus in Ostindien, globalisierte Gefühle, politische Tiere oder den geheimen Zusammenhang von Terror und Macht, Dichtung und Bürokratie, Kluges insistierende Präsenz bringt den Befragten nicht nur immer dazu, mehr und anderes zu sagen als das vorher Gewusste, das öffentlich bereits Niedergelegte. Und immer ergeben sich auch schlaglichtartige Erhellungen der aktuellen Verhältnisse: »Aus der Ferne kommt unser Nächstes zurück«.