Nutzerkonto

Simon Critchley: Was ist die institutionalisierte Form des Denkens?
Was ist die institutionalisierte Form des Denkens?
(S. 283 – 296)

Eine Erfahrung des Lehrens, bei der das Lehren zum Forschungslabor wird

Simon Critchley

Was ist die institutionalisierte Form des Denkens?

Übersetzt von Vera Kaulbarsch und Adrian Renner

PDF, 14 Seiten

Akademische Institutionen sind unvermeidbar. Institutionen sind unvermeidbar. Meine Disziplin, die Philosophie, war schon immer eine akademische, von Platons Akademie angefangen über Aristoteles’ Lyceum bis hin zum epikureischen Garten als wichtigem Beispiel. Solche Schulen sind Institutionen informeller Art, die normalerweise um einen charismatischen Lehrmeister herum organisiert und der Verbreitung der Lehre unter die Schüler gewidmet sind. Sie bestehen aus dem Modell der Jüngerschaft und das Ziel der Institution ist die Schaffung von Jüngern. Dieses Modell, das Jacques Lacan den Meister-Diskurs nennt, ist leicht zu kritisieren, aber was diese philosophischen Akademien interessant macht, ist ihre naturgemäß begrenzte Größe und Autonomie und ihre Verpflichtung dem Lehren gegenüber. Die platonischen Dialoge wurden nicht als Forschungsprojekte geschrieben, sondern um dem Lehren eine größere Zuhörerschaft zu verschaffen. Was die Humanities meiner Meinung nach anzubieten haben, besteht aus einer Erfahrung des Lehrens, bei der das Lehren zum Forschungslabor wird. Aber hierauf werde ich später zurückkommen.


Als Philosoph beschäftige ich mich damit, zu denken, nachzudenken über alles Mögliche, so kreativ, klar und streng nachzudenken wie möglich. Einem Philosophen sollte nichts fremd sein. Die Frage stellt sich: Worin besteht die Form des Denkens? Nun, ganz offensichtlich scheint es das zu sein, was in einem Kopf stattfindet, in der Artikulation von Vorstellungen und Gedanken. Aber worin besteht die kollaborative Form des Denkens oder die institutionalisierte Form des Denkens? Das ist die Frage.


Ich denke nicht, und das ist meine Sorge, dass die richtige Form für das kollaborative Denken mit der Universität und besonders der staatlichen Universität vorhanden ist. Die moderne Universität ist größtenteils eine deutsche, Humboldt’sche Erfindung des 19. Jahrhunderts, mit einer pyramidenförmigen Hierarchie und disziplinären Aufteilungen, mit Professoren, die auf ihren Lehrstühlen sitzen und sich von unterwürfigen Assistenten den Saum ihrer Talare küssen lassen. Es ist schönstes und perfektestes Preußentum. Ihren philosophischen Ausdruck findet es in Hegels Rechtsphilosophie, der Apologie eines Staates, in dem Platons Philosophen-König zum Staatsbeamten geworden ist. Auch Husserl hat dies im Kopf, als er den Philosophen als Beamten oder Funktionär der Menschheit bezeichnete, und es war das, was Heidegger meinte, als er die Philosophen ominöserweise als die Polizeikräfte in der Prozession der Wissenschaften beschrieb. Für mich bleibt festzuhalten, dass ich die Philosophie, oder die Humanities, nicht als Abteilung einer Staatsbürokratie oder einer Polizeischule sehe. 


Es hat im Allgemeinen einen Abtötungseffekt, die Universität mit dem Staat zu verbinden, sei es der klassische Nationalstaat oder der europäische Superstaat. Die Anbindung der Universität an den Staat mag zu bestimmten Zeiten berechtigt...

  • Institution
  • Universität
  • Geisteswissenschaften
  • Großbritannien
  • Lehre

Meine Sprache
Deutsch

Aktuell ausgewählte Inhalte
Deutsch, Englisch, Französisch

Simon Critchley

Simon Critchley

ist ein britischer Philosoph. Er ist Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York und Teilzeitprofessor an der University of Essex. Seit 2010 unterrichtet er außerdem an der European Graduate School in Saas-Fee und ist zudem Gastprofessor an der Universität Sydney (AUS) und der University of Notre Dame (USA). Zwischen 1998 und 2004 war er Programmleiter am Collège International de Philosophie in Paris.

Weitere Texte von Simon Critchley bei DIAPHANES
Unbedingte Universitäten (Hg.): Was passiert?

Der Band versammelt Positionen, die aus ­aktuellen Protestbewegungen agieren oder zu ihnen Stellung beziehen. Positionen, die jüngste Veränderungen des Hochschulwesens beschreiben und reflektieren, auf Gefahren aufmerksam machen, ebenso aber Möglichkeiten aufzeigen und explizite Forderungen stellen. Es sind Stellungnahmen, Bekenntnisse, Positionspapiere, geschrieben von zeitgenössischen Autoren, von Professoren, Studenten, Kollektiven. Stimmen werden laut, die wütend, nachdenklich, pragmatisch, unerbittlich einstehen für die Forderung, sich heute mit der Lage der Universität auseinanderzusetzen.

Inhalt