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Jean-Luc Nancy: Alliterationen
Alliterationen
(S. 41 – 54)

»Körper in Ausdehnung, zum Bersten gespannt«

Ein anderer – wenn er ein anderer ist, ist ein anderer Körper. Ich hole ihn nicht ein, er bleibt auf Distanz. Ich beobachte ihn nicht, er ist kein Objekt. Ich ahme ihn nicht nach, er ist kein Bild. Der andere Körper spielt sich in meinem noch einmal. Er durchquert ihn, macht ihn beweglich oder stachelt ihn an. Er leiht oder schenkt ihm seinen Schritt.


Mehr als einmal hat man im Blick auf einen Tänzer oder eine Tänzerin v­eranschaulicht, was man einst Empathie oder Intropathie nannte: die Reproduktion des anderen in sich – der Widerhall, die Resonanz des anderen.

Der andere da drüben, nah in seiner Entfernung, gespannt, eingefaltet, entfaltet, verbogen, hallt in meinen Gelenken wider. Ich nehme ihn eigentlich weder mit den Augen noch mit dem Gehör noch durch Berührung wahr. Ich nehme nicht wahr, ich halle wider. Hier bin ich, gekrümmt von seiner Krümmung, geneigt nach seinem Winkel, angestoßen von seinem Schwung. Sein Tanz hat an meinem Platz begonnen. Er oder sie hat mich deplatziert, mich beinahe ersetzt.


Die meisten Tätigkeiten, die man gemeinhin unter die Kategorie der Kunst oder der Künste fasst, scheinen uns zunächst einmal B­otschaften zu überbringen: Bilder, Rhythmen oder Schemen, Klänge, Volumen, körnige Strukturen, manchmal auch Wörter, oder Geschmacks­eindrücke und Düfte. Sie lassen sich sinnlich wahrnehmen, und wir haben dafür Sinne, und zwar jeweils geeignete Sinne.


Der Tanz jedoch scheint zu beginnen, bevor er überhaupt sinnlich wahrnehmbar ist, oder vielmehr, bevor wir mit sensiblen Organen ausgestattet sind. Er scheint vor der Sinneswahrnehmung zu beginnen, vor jedem Sinn überhaupt, in welchem Sinn des Wortes »Sinn« auch immer.


Er beginnt unmerklich, und es keimt der Verdacht, dass es wohl unmöglich bleibt, zu entscheiden, wo und wann der Tanz eigentlich begonnen hat.


Was vom anderen in meinen Gelenken widerklingt, was ohne mein Wissen vom anderen herüberkommt und meine Sehnen spannt, was meinen Knochen, meinem Bauch, meinem Kehlkopf Spiel verleiht und bis in die Nähte meines Schädels vordringt – wo hat das wohl seinen Anfang genommen, wo hat es sich zu falten und zu spielen begonnen, beim anderen, bei ihm, bei ihr dort drüben?


Zwangsläufig bei noch einem anderen, einem noch ganz anderen in ihm, einer ganz anderen tief in ihr selbst. Ganz anders, und aus diesem Grunde umso weniger als Botschaft empfangen. Sondern vielmehr überrascht im plötzlichen Ergriffensein, wie bei einem Krampf oder einer Zuckung – es sei denn, es wäre Entspannung, Unterbrechung, Entäußerung gewesen.


Immer noch kein Sinn, kein Empfinden, aber unmerklich löst sich ein...

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Jean-Luc Nancy

Jean-Luc Nancy

(1940–2021) gilt als einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung Philosophie an der Université Marc Bloch in Straßburg und hatte Gastprofessuren in Berkeley, Irvine, San Diego und Berlin inne. Sein vielfältiges Werk umfasst Arbeiten zur Ontologie der Gemeinschaft, Studien zur Metamorphose des Sinns und zu den Künsten, Abhandlungen zur Bildtheorie, aber auch zu politischen und religiösen Aspekten im Kontext aktueller Entwicklungen.

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Jean-Luc Nancy

Ausdehnung der Seele
Texte zu Körper, Kunst und Tanz

Übersetzt von Miriam Fischer

Broschur, 112 Seiten

Der Band vereint verstreute Texte, in denen Jean-Luc Nancy sich mit dem Themenfeld von Körper und Leib beschäftigt. Mal fragmentarisch verdichtet, mal in genauen philosophischen Lektüren und Beobachtungen betrachtet er den Körper aus dem Blickwinkel der sexuellen Lust oder des Medizinischen, in seiner Grenzfunktion zwischen Innen und Außen, dann liest er René Descartes über das Verhältnis zwischen Körper, Geist und Seele oder stellt Überlegungen zur ästhetischen Lust »am Rande der Funktion ›Kunst‹« an. Immer wieder aber steht der Tanz im Zentrum, als Trennung und Loslösung, als Geburt des Körpers und des Sinns, als unablässige Entwicklung, »Körper, Markstrang, um eine Leere gekrümmt, Embryo, über nichts gebeugt, eingewickelt, sich entwickelnd«. Der tanzende Körper ist ein Körper, der sich von sich trennt, um zu sich zu finden, der seine Form verlässt, um eine neue einzugehen, der einen Ort aufgibt, um einen anderen einzunehmen.